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Dr. Klaus Staubsitzer

Dr. Klaus Staubitzer ist Chief Procurement Officer der Siemens AG. Zuvor hatte er sowohl operative als auch strategische Funktionen bei Siemens inne. So war Staubitzer vor seiner Tätigkeit als CPO unter anderem in verschiedenen Geschäftssegmenten und Businessunits als CEO und CFO innerhalb von Siemens tätig.

Neue Ära der Beschaffung: Der „Value-add Orchestrator“

Bei Unternehmen läuft alles auf die Wertschöpfung hinaus. Überall wird das Verhältnis zwischen Input und Output als wertvoll angesehen: In welchen Teil meines Unternehmens investiere ich, und was habe ich am Ende davon. Aber ob sich Ihre Investitionsentscheidungen auszahlen, ist nicht immer so einfach zu ermitteln. Die Beschaffung ist in dieser Hinsicht eher eine privilegierte Unterstützungsfunktion: Bei der Beschaffung lässt sich leicht nachvollziehen, was investiert und was finanziell gewonnen wurde.

Und dennoch: Unsere Funktion wird oft auf Produktivität reduziert – also den Teil unserer Arbeit, der den reinen Kostensenkungsanteil beschreibt. Das ist zu kurz gegriffen, denn die Hebel der Beschaffung sind wesentlich vielfältiger.

Traditionell muss unsere Funktion drei wesentliche Dimensionen ausbalancieren: Produktivität, Verfügbarkeit und Qualität. Allein dieser Gedanke zeigt, warum es bei der Beschaffung nicht nur darum gehen kann, niedrige Preise auszuhandeln. Ziel dieses Spagats ist es natürlich, auf dem Markt nachhaltig (in jeglicher Hinsicht) erfolgreich zu sein. Aber das ist nicht alles.

Innovation als Triebfeder für die Digitalisierung der Beschaffung

Gerade bei Siemens ist die Beschaffungsdisziplin in der Lage, über eine weitere Dimension wesentlich zur Wertschöpfung beizutragen. Vielleicht ist es die elementarste von allen: Innovation. Und hier setzt die volle „Value-add Orchestration“ an. Die Beschaffung ist also deshalb so wertvoll, weil sie nun VIER Dimensionen ausbalanciert: Produktivität, Verfügbarkeit, Qualität und Innovation. Um das erfolgreich anzuwenden, haben wir zwei zentrale Fragen gestellt:

– Wie kann Innovation durch Bottom-up-digitalisierte Prozesse genutzt werden?

– Wie eng hängt dies mit Schwarmintelligenz und unserem Lieferanten-Öko-System zusammen?

Förderung des Innovationsgeistes durch Zusammenarbeit

Ich bin davon überzeugt, dass das Potenzial dieses durch digitale Exzellenz geförderten kollaborativen Geistes den entscheidenden Unterschied ausmachen wird, wenn es um die Schaffung nachhaltiger Werte geht. Die Antworten auf die Fragen „Wie entwickelt sich die Beschaffung?“ und „Wie entwickelt sich die Beschaffungsfunktion?“ haben für mich zum einen mit der Kompetenz und dem Innovationsgeist unserer eigenen Mitarbeiter zu tun, zum anderen hängen sie stark davon ab, dass wir den Innovationsgeist unserer Partner durch digitalisierte Prozesse fördern. Auf diese Weise können wir Innovation als zusätzlichen Navigationspunkt effektiv in das traditionelle Beschaffungsdreieck aus Produktivität, Verfügbarkeit und Qualität integrieren.

Supply Chain: Ökosystem statt Ego-System

Für ein Unternehmen wie Siemens, dass Innovation in seiner DNA verankert hat, muss sie auch Teil der Procurement-Gleichung sein. Erfindungsreichtum in unseren Kernbereichen ist unverzichtbar. Forschung und Entwicklung hatte und hat für uns immer höchste Priorität. Nehmen Sie unsere Lieferanten und Partner: Da ein großer Teil unserer Lieferanten auch unsere Kunden sind, sind wir Teil eines äußerst innovativen Ökosystems. Aber wie können wir dieses Potenzial effektiv nutzen?

Der Schlüssel, um aktiv vom Ökosystem zu profitieren und in dieses zu investieren, ist die Digitalisierung der Prozesse. Und um bei diesem Unterfangen zu glänzen, haben wir uns nicht für ausgetretene Pfade entschieden – wir haben die Abenteuerroute gewählt. Uns war klar, dass die Punkte nur von denjenigen verbunden werden können, die täglich mit den neuen Systemen und Prozessen arbeiten und diese beherrschen müssen. Wir brauchten Veränderungsimpulse von unten nach oben, um den Weg in eine stabile digitale Zukunft zu gehen.

Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Wenn für ein neues Produkt eine Innovation benötigt wird, die nicht zum Kerngeschäft gehört, muss die Anfrage schnell an Lieferanten und Partner weitergeleitet werden. Deren Antworten müssen nicht nur ebenso schnell eintreffen, sondern auch (zeit-)effizient bewertet und qualifiziert werden. Wir brauchen also eine Plattform, auf der der Austausch stattfinden kann. Das aktuelle Tool wurde in unserem Digi-Netzwerk erdacht, entwickelt und skaliert, in dem sich jeder beteiligen und seine Ideen einbrachte. Das läuft bis heute so. Alles in allem bedeutet dies etwas ganz Unglaubliches: Durch die Nutzung der Schwarmintelligenz unseres Lieferanten-Ökosystems über digitale Plattformen, die von unserer Inhouse-Expertenbasis geschaffen wurden, können unsere Kerninnovationen in der Fertigung zeit- und kosteneffizient durch den Innovationsgeist unserer Partner ergänzt werden.

Stabile Lieferkette & geringe Produktionsausfälle

Jetzt während der Pandemie haben wir bereits von dieser Strategie und der Digitalisierung der Supply Chain profitiert: Siemens hat kaum Produktionsausfälle gehabt. Ich bin oft gefragt worden, wie wir so schnell auf die neuen Gegebenheiten reagieren konnten. Ich glaube, ein Grund war unsere kompromisslose Transparenz über alle Digitalisierungsbemühungen und -aktivitäten, die uns überhaupt erst handlungsfähig gemacht hat. Ein weiterer Grund ist, dass wir durch all diese Anstrengungen in der Lage waren, global und auf einer starken Vertrauensbasis zu agieren.

Die gute Vorbereitung in Bezug auf Digitalisierung, Transparenz und das spezifische Fachwissen von Abteilungen und Mitarbeitern war für uns entscheidend, um proaktiv durch die Krise zu navigieren. Durch unseren Bottom-up-Ansatz ist es gelungen, einen substanziellen Mehrwert zu schaffen, der nun tief in unserer Beschaffungs-DNA verankert ist. Er kann von anderen Akteuren in der Branche nicht einfach oder schnell nachgeahmt werden kann.

Fazit: Digitalisierung der Supply Chain

Die fortschreitende digitale Transformation und die Digitalisierung der Supply Chain, die durch die Pandemie stark beschleunigt und relevanter denn je geworden sind, haben den Blick auf alle Geschäftsdisziplinen gerichtet – und auf deren Schwächen und Potenziale gleichermaßen. Eine brutale Wahrheit, die auf breiter Front zutage getreten ist: Mangelnde Flexibilität und Entscheidungsträgheit kann sich kein Unternehmen mehr leisten. Andererseits können unerwartete globale Ereignisse, die meiner Meinung nach die neue Normalität sind, durch proaktive Vorbereitung und digitale Exzellenz abgefedert werden. Darin liegt, kurz gesagt, das Potenzial, in einer Krise zu glänzen. Und die Beschaffung nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein.

Der Beitrag entstand im Anschluss an den Workshop „Digitalisierung der Supply Chain“, der komplette Workshop ist auf Youtube abrufbar >>

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Bildnachweis: Blackred – Getty Images/Stockphoto