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Hans J. Huber

Hans J. Huber ist Product Owner für Trade Finance Research & Development im DLT Lab der Commerzbank AG. Er arbeitet seit 25 Jahren in internationalen Teams an der Schnittstelle zwischen IT und Fachabteilungen und hat Erfahrungen in der Logistik-, Marketing- und Finanzindustrie.

Die Menge global produzierter Waren und Dienstleistungen hat sich in den vergangenen 30 Jahren so gut wie verdoppelt und der damit betriebene Handel mehr als verdreifacht. Viele Bereiche des Produzierens und des Handels wurden digitalisiert, doch eine konsequente Vernetzung der zahllosen digitalen Inseln hat bisher nicht stattgefunden. Daten werden weiterhin auf ausgedruckten oder pdf-Dokumenten zwischen den digitalen Systemen der Beteiligten herumgereicht. Nur wenn dieser Rückstand im Bereich der Digitalisierung des Handels überwunden werden kann, können die Potenziale der Digitalisierung gehoben und die Prozesse sicherer, zuverlässiger, nachhaltiger und günstiger werden. Gleichzeitig könnten strafbare oder zweifelhafte Geschäftspraktiken – wie handelsbasierte Geldwäsche, Betrug oder schwer nachprüfbare Nachhaltigkeitsangaben – überprüft und unterbunden werden.

Im gleichen Zeitraum fand eine äußerst dynamische Entwicklung in der ITK-Wirtschaft statt. Waren Heimcomputer zu Anfang der 90er Jahre noch teuer und Mobiltelefone Luxusgüter, sind Smartphones heute weltweiter Standard. Fast alle Leistungsparameter dieser Handcomputer übertreffen jene damaliger Supercomputer. Und sie erbringen diese Leistung zu einem winzigen Bruchteil des damaligen Energieverbrauchs. Die erfolgte Miniaturisierung und Integration von Schaltkreisen ermöglicht heute vernetzte Sensoren und Aktuatoren an Maschinen und Alltagsgegenständen, welche ebenso zunehmend überall verfügbar werden, das sog. Internet of Things. Maschinen „sprechen“ miteinander und interagieren mittels Smartphones, Wearables oder Sprachbefehlen ebenso wie mit Menschen. „Ubiquitous Computing“ ist Realität geworden. Datenverarbeitung überall und jederzeit und zu jedem Zweck!

Ebenso rasant entwickelten sich in dieser Zeit das Internet und die Mobilfunknetze. Letztere stehen heute global in hoher Qualität zur Verfügung. Satellitenkonstellationen sind im Aufbau und werden Mobilfunknetze ergänzen und bestehende Anbindungslücken vollständig schließen. Jeder Punkt der Erdoberfläche wird mit hoher Bandbreite und Latenzen unter 100ms vernetzt werden. Produktionsanlagen in Deutschland, Kupferminen in Sambia, Containerschiffe inmitten des Pazifiks und Flugzeuge in der Luft über China oder Brasilien werden so Elemente eines kontinuierlichen Datenaustauschgeschehens. „Ubiquitous Networking“: Datenaustausch überall und jederzeit und zu jedem Zweck.

Durch die Kombination aus Ubiquitous Computing und Ubiquitous Networking sind Endpunkte für menschliche Interaktion mit in Software dargestellten Prozessen nun überall verfügbar. Dies gilt ebenso für Interaktionen zwischen beliebigen Maschinen und den darauf laufenden Software-Prozessen.

Dezentrale Business Networks, DLT, IoT, AI

Die Administration des Außenhandels findet in einer Vielzahl von Systemen statt, die meist in den Rechenzentren der Handelsbeteiligten betrieben werden. Zum Übertragen von Daten zwischen den Systemen kommt an vielen Stellen weiterhin Papier oder Papiersubstitute mit wenig strukturierten Daten zum Einsatz. Auch die Anbieter von ERP-Systemen haben diesen Raum bisher nur unzureichend erschlossen. Zwar können Datensätze zwischen den ERP-Systemen eines Verkäufers und Käufers ausgetauscht werden, doch scheint es in diesem Szenario an gemeinsamem, „neutralem Grund“ zu fehlen. Denn häufig sind an Datenübertragungen Ereignisse rechtlicher Art gebunden, für welche ein Zeitstempel nebst einer gerichtsfesten Unterschrift gewünscht wird. Die Entwicklung dezentral organisierter Geschäftsnetzwerke, welche sich zwischen den ERP-Systemen ansiedeln könnten, kann diese Lücke schließen.

Perspektivisch werden auf diesen „Decentralized Business Networks“ alle komplexen Geschäftsabläufe zwischen den Handelnden und ihren Dienstleistern konzertiert werden. Die Interaktionsprozesse von Finanzdienstleistungen, Logistikdienstleistungen, Versicherungen, Verzollungen, Zertifizierung nach Inspektionen, Herkunftsnachweisen und andere erforderliche Services können darin bereitgestellt werden. Benötigte Daten werden in die Netzwerke eingegeben und können ebenso von dort entnommen werden. Fehlerbehaftete Doppel- und Wiedereingaben einmal erfasster Daten werden obsolet. Für nahezu alle Dienstleister rund um Lieferketten entwickeln sich diese Netzwerke zu primären Verkaufspunkten.

In der Regel wird den Netzwerken ein Distributed Ledger zugrunde liegen, der ein Beschreiben und Ändern der Systeme nur gemeinsam im Konsensus nach vorbestimmten, programmierten Regeln ermöglicht. Dieses „Technische Vertrauen“ erlaubt Automatisierung organisationsübergreifender Geschäftsprozesse in nie gekanntem Ausmaß. Smart Contracts determinieren vereinbarte Regeln und festgelegtes Vorgehen für Geschäftsabläufe in Code und können über Firmengrenzen hinweg programmiert werden.

Für den Datenaustausch zwischen verschiedenen Netzwerken, den Back-Office-Systemen der Teilnehmer und den IoT-Datenquellen und -senken der Umgebung bestehen bereits eine Reihe technischer Standards und Protokolle. Weitere sind in Konzeption und werden entwickelt. Die durchgehende Nutzung von ISO-Standards und Übereinstimmung mit den UNECE Recommendations wird zum einem herausragenden Qualitätsmerkmal von Handelssystemen. Eine Zertifizierung der Standardkonformität von Handelssystemen wird zur Dienstleistung. Hohe Datendurchlässigkeit zwischen den Netzwerken ist das Ziel und wird so Realität.

Aufwandsfreier Zugriff auf Daten erleichtert wiederum den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Prescriptive und Predictive Analytics, beispielsweise zur Betrugseingrenzung oder zur Erfüllung regulatorischer Pflichten und ermöglicht weitere Big Data Ansätze. Papier als Datenträger und -transporteur wird in dieser Welt keinen Platz mehr haben und rückständig erscheinen. Oder gar verdächtig. Doch worauf wird dann unterschrieben? Wie wird eine Datenübertragung Rechtsgültigkeit erlangen?

Digitale Identitäten

Digitale Identitäten für Organisationen, Personen, Gegenstände und Software-Prozesse werden Zugriffsrechte zu den zahlreichen Systemen und Netzwerken und den darauf verwalteten Transaktionen gewähren. Verzeichnisdienste, welche heute Rechte und Rollen in Softwaresystemen vergeben und damit Zugang zu Ressourcen und Diensten in den Firmen regeln, werden nach und nach durch externe Dienste für digitale Identitäten ersetzt und somit ebenso in den Raum zwischen den Firmen migrieren. Rechte und Rollen im Verhältnis zueinander können so programmierbar dargestellt werden.

Eine digitale Identität besteht vereinfacht dargestellt aus einer dezentralen Kennung (Decentralized Identifier) und mehreren daran angehängten, überprüfbaren Beglaubigungen (Verifiable Credential). Beide Artefakte wurden von der W3C bereits umfassend standardisiert. Als Identifier bietet sich im Welthandel der Legal Entity Identifier der GLEIF als global eindeutige Kennung eines Unternehmens an. Dem LEI werden Verifiable Credentials angehängt, die einer Organisation oder deren berechtigten Mitarbeitern Zugriff auf Transaktionen in Fremdsystemen gewähren. Digital signiert und damit programmatisch nachprüfbar sind die Verifiable Credentials vom Betreiber des Fremdsystems und jenem, der eine Handelsdokumentation auf dem System bereitstellt.

Ein Beispiel aus dem Bereich digitaler Identitäten: Eine Bank greift zur Bearbeitung eines Akkreditivs auf mehrere Netzwerke zu, in denen sowohl Bestellung, Handelsrechnung, Konnossement als auch Ursprungszeugnis digital verzeichnet sind. Das Zugriffsrecht auf die entsprechenden Transaktionen in diese Fremdsysteme wird der Bank als Verifiable Credential in deren digitale Identität geschrieben, sobald der Käufer in einem B2B- oder Akkreditiv-Netzwerk festlegt, dass die Bank das Akkreditiv eröffnen wird. Die Bank delegiert das Recht zum Zugriff auf diese Datensätze an ihre damit befassten Mitarbeiter, indem sie ein entsprechendes VC in deren digitale Identität überträgt.

Die mittels einer digitalen Identität vorgenommene Transaktion stützt sich auf ein X.509 Zertifikat, welches Teil einer Vertrauenskette ist, die bei der Trust Root endet. Die Autorisierung zu und Authentizität der damit vorgenommenen Transaktion ist technisch gewährleistet und dürfte in Deutschland durch das eIDAS-Durchführungsgesetz und den dazu erlassenen Rechtsverordnungen gedeckt sein. Erforderlich wären gleichgeltende Regelungen in außereuropäischen Rechtsräumen.

Netzwerkeffekte erzeugen

Ähnliche Fragen zu „gesetzlicher Kongruenz“ stellen sich bei der Verwendung elektronischer Aufzeichnungen für Handelsdokumentationen. Bringt es doch wenig Fortschritt, wenn im Exportland die Verwendung elektronischer Aufzeichnungen für Konnossemente und Ladescheine gesetzlich möglich ist, doch im Importland aus rechtlichen Gründen der teure und langsame Rückfall auf Papier erzwungen wird. Gesetzliche Grundlagen für das geschäftliche Agieren in global gespannten Netzwerken sollten vereinheitlicht werden. Die Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) hat bereits 2017 einen Vorschlag zur Ausgestaltung nationaler Gesetze vorgelegt, um global gleichartige Rechtsverhältnisse zur Übertragung von Warenwertpapieren anzuregen.

Die Realisierung der Vision eines Internets des Handels bedarf auch auf technischer Ebene großer gemeinsamer Anstrengungen. Technische Standards sorgen für Interoperabilität und sind gemeinsam zu entwickeln und, wo nötig, zu deflationieren. Eine technische Handelssprache mit einheitlichem Vokabular, einheitlicher Semantik und einheitlicher Syntax wäre anzustreben und würde die Verknüpfung verschiedener Systeme und Netzwerke mittels APIs stark vereinfachen, verbilligen und beschleunigen.

Den Handelsparteien und ihren Dienstleistern wie Banken, Versicherern, Logistikern und Inspektoren stehen große Veränderungen bevor. Diese werden sich auf interne IT- und Prozesslandschaften, Qualifikationen der mit Handelsprozessen betrauter Mitarbeiter und angebotene Produkte erstrecken. Öffentliche Verwaltungen und Zollbehörden sollten in diesem Prozess eine tragende Rolle spielen und idealerweise globale Akzente setzen. Peppolist ein europäisches Beispiel dafür.

Die Veränderungen werden so umfassend sein, dass sogar große Einzelakteure keine Schlagkraft entwickeln können. Zum Bau eines Netzwerks der Netzwerke bedarf es eines Erfolgsfaktors, den es nur gemeinsam zu schaffen gelingt: Netzwerkeffekte!

Auf der Suche nach Trost und einem noch so geringen Nutzen der gegenwärtigen Pandemie, könnte man hier fündig werden: Covid-19 ist für globale Digitalisierungsbemühungen ein echter Beschleuniger!

Fazit Digitalisierung des Handels

Der Welthandel wird sich im Verlauf der Zwanzigerjahre fast vollständig digitalisieren und vernetzten. Systeminseln und papierhafte Dokumentation werden immer schneller in den Hintergrund gedrängt. Ein Nervensystem der Weltwirtschaft entsteht infolge der Konvergenz verschiedener Technologien und wird zunehmend dichter gewoben. Die Fähigkeit zur digitalen Teilnahme am Handelsverkehr wird zur Schlüsselkompetenz und bedarf neuer Prozesse und Fähigkeiten in den Unternehmen. Öffentliche Verwaltungen sollten in ihren Digitalisierungsbemühungen zügig vorangehen und technische Standards fördern. Zusammenarbeit ist gefordert.

 

Die ICC unterstützt mit ihrer Bankenkommission die Digitalisierung des Außenhandels. ICC Germany unterhält eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema, die mit Nutzern und den entsprechenden Ministerien die regulatorischen Herausforderungen identifiziert. Weitere Informationen: dana.enss@iccgermany.de.

Der Beitrag zum Thema „Digitalisierung des Handels“ ist im ICC-Germany-Magazin, Nr. 12, erschienen. Mehr über unser Magazin erfahren und kostenfrei abonnieren.

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