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Dr. Holger Bingmann

Dr. Holger Bingmann ist seit 2017 im Präsidium des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. (BGA) und wurde 2018 in das Präsidium von ICC Germany gewählt. Der promovierte Betriebswirtschaftler ist Geschäftsführer der Pressevertrieb München Holding, Gründer der DBU Digital Business University of Applied Sciences und war bis Februar 2020 geschäftsführender Gesellschafter der von ihm mitgegründeten MELO-Gruppe mit rund 2.000 Mitarbeitern mit Schwerpunkten Außenhandel, Logistik und Medien.

ICC Germany: Herr Bingmann, wo stehen deutsche Unternehmen bei der Digitalisierung?

Bingmann: Digitale Plattformen und künstliche Intelligenz werden vom Verbraucher jeden Tag genutzt. Kein Unternehmen in Deutschland kann daher sagen, das Thema sei für sein Unternehmen nicht relevant. Ich stelle jedoch mit Besorgnis fest, dass Unternehmen laut diverser Umfragen die Relevanz der Digitalisierung immer noch unterschätzen. Hier ist mehr Offenheit und Neugier gefragt. Wir müssen anhand von Best-Practice-Beispielen in Unternehmen deutlich machen, wie wichtig Digitalisierung ist und welche Möglichkeiten sie mit sich bringt.

In der öffentlichen Debatte wird auch immer wieder mit dem Schreckensszenario hoher Arbeitslosigkeit infolge der Digitalisierung argumentiert. Trotz zunehmender Investitionen in die Digitalisierung können wir bislang jedenfalls  keinen Anstieg der Arbeitslosigkeit feststellen. Richtig ist aber, dass die digitale Transformation der Wirtschaft nur gelingen wird, wenn wir massiv in Bildung insgesamt und insbesondere in die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter investieren und die Zuwanderung von Facharbeiter aus dem Ausland offen gestalten.

ICC Germany: Glauben Sie, dass die letzten Monate zu mehr Digitalisierung führen?

Bingmann: In der Corona-Krise ist deutlich geworden, dass trotz einer boomenden deutschen Wirtschaft in den letzten zehn Jahren von Staat und Wirtschaft zu wenig in die Digitalisierung investiert wurde. Daran wird jetzt gearbeitet und hier wirkt die COVID-19-Krise als Beschleuniger. Tatsache ist aber auch, dass wir es in Europa verpasst haben, die großen digitalen Plattformen mitzugestalten. Die zentralen Strukturen sind durch US-amerikanische und chinesische Unternehmen bereits geschaffen worden. Deswegen ist es richtig, dass die Europäische Union jetzt den regulatorischen Rahmen zum Datenschutz und Datentransfer setzt, um zu verhindern, dass die massive Sammlung und Speicherung von Daten  gegen den Nutzer verwendet wird.

Langfristig sind global einheitliche Regelungen notwendig. Die ICC treibt dieses Thema voran und beteiligt sich u.a. aktiv an den Verhandlungen zum Abschluss eines plurilateralen Abkommens bei der WTO zum digitalen Handel. Auch Mitglieder von ICC Germany sind aktiv in diesen Prozess eingebunden und beteiligen sich an der Gestaltung des Rahmenabkommens.

ICC Germany: Wie kann die  ICC die Digitalisierung des internationalen Handels voranbringen?

Bingmann: Als globale Wirtschaftsorganisation stellt die ICC seit rund 100 Jahren Regeln und Standards  für den internationalen Handel auf und passt sie regelmäßig an die technologischen Entwicklungen und aktuellen Handelsbräuche an. Mit dieser jahrzehntelangen Erfahrung ist die ICC in besonderer Weise geeignet, die dringend notwendige Digitalisierung des internationalen Handels voranzutreiben. Dabei geht es weniger um die Entwicklung eines einheitlichen Weltstandards, das wäre zwar wünschenswert, ist aber wenig realistisch. Vielmehr hat sich die Digital Trade Standards Initiative (DSI) der ICC zum Ziel gesetzt, die Interoperabilität der verschiedenen bestehenden Standards sicherzustellen. Diese Herausforderung ist nicht weniger anspruchsvoll und Bedarf einer engen Kooperation aller beteiligten Akteure.

ICC Germany: Welche konkreten Vorteile hat die Digitalisierung?

Bingmann: Digitale Plattformen können das reibungslose Funktionieren von Prozessen sicherstellen – darauf macht die ICC schon seit langem aufmerksam. Sie haben den Vorteil  –  wenn sie einmal zum Laufen gebracht worden sind – in der Regel automatisiert und verlässlich zu funktionieren. Die Beschränkungen des Miteinanders während der Corona-Krise haben uns unmissverständlich  aufgezeigt, dass digitale Plattformen, sei es im Handel, in der Produktion, im öffentlichen Verwaltungsbereich oder im Home Office notwendig und richtig sind.

Die ICC treibt das Thema Digitalisierung im Bereich des Außenhandels und der Handelsfinanzierung voran. Neue Technologien wie Distributed Ledger Technology (DLT), Internet of Things (IOT) und Künstliche Intelligenz (KI) sowie etablierte digitale Plattformen und Business Process Outsourcing können durch vollautomatisierte Abwicklung und mehr Transparenz zu einem besseren Verständnis bestehender Risiken führen, zu Zeit- und Kosteneinsparungen und zu einem geringeren Compliance- und Betriebsrisiko. So bietet z.B. die Digitalisierung der Handelsfinanzierung Unternehmen und Banken gleichermaßen Vorteile. Die Kosten von Finanztransaktionen werden gesenkt und der Zugang insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen zu Finanzierungsinstrumenten erleichtert.

ICC Germany: Welche Herausforderungen bestehen bei der Digitalisierung des Außenhandels?

Bingmann: Es gibt zurzeit noch keinen einheitlichen  rechtlichen und regulatorischen Rahmen oder einheitliche Standards. Um das Potential der Digitalisierung vollständig auszuschöpfen,  müssen außerdem alle Beteiligte einer Lieferkette in den Digitalisierungsprozess eingebunden werden. Dazu gehören neben den Geschäftspartnern und Banken auch Zoll- und Kontrollbehörden, Regulierer und andere staatliche Organisationen. Die ICC hat im Jahr 2017 eine Arbeitsgruppe zur Digitalisierung der Handelsfinanzierung initiiert,  in Deutschland startete zur gleichen Zeit die „Digital Trade Docs Initiative“, mit der die Digitalisierung des Außenhandels in Deutschland und Europa vorangebracht werden soll. Die Initiative, bei der ICC Germany die Schirmherrschaft übernommen hat,  ist ein offener Kreis aus Vertretern aus Forschungseinrichtungen und deutschen Unternehmen aus der verarbeitenden Industrie, dem Handel, der Finanzwirtschaft und dem Logistikbereich. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die hohe Abhängigkeit des Außenhandels von papierbasierten Praktiken zu reduzieren, die rechtliche Anerkennung elektronischer Dokumente sicherzustellen und einen einheitlichen regulatorischen Rahmen zu schaffen.

ICC Germany: Welche Rolle nimmt Europa im digitalen Wettbewerb ein? Fehlen bei uns die Startups, die eine Digitalisierung vorantreiben könnten?

Bingmann: Europa muss sich der eigenen Stärken bewusst werden. Kreativität und Geld gibt es nicht nur in Kalifornien oder China, sondern auch bei uns. Allerdings müssen Investitionen in solche Unternehmen, die moderne und digitale Industrien aufbauen, gestärkt und gefördert werden, z.B. durch Investitionsanreize oder durch Abschreibungsmöglichkeiten für Forschung und Entwicklung.

Darüber hinaus müssen wir alle Formen der sog. „open innovation“ fördern, um schneller und agiler zu werden. Um die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Startups weltweit zu fördern, organisiert die ICC u.a. die renommierten Corporate Startup Stars-Awards. Gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen „Mind the Bridge“ werden Unternehmen ausgezeichnet, die ihre Innovationsprozesse über Partnerschaften, mit Hilfe von Inkubatoren und Acceleratoren oder durch Investitionen bzw. Akquisitionen nach außen öffnen. Im letzten Jahr hat die Bosch-Gruppe gemeinsam mit Mastercard und BP die ersten Plätze belegt, andere deutsche Unternehmen wie SAP und Siemens erhielten Auszeichnungen in Sonderkategorien. Es gibt viele tolle Beispiele, wie Unternehmen in Zusammenarbeit mit Startups Innovation fördern und auch die Unternehmenskultur verändern.

ICC Germany: Bietet die Digitalisierung auch Vorteile für Entwicklungsländer?

Bingmann: Die ICC ist eine globale Organisation, die die Wirtschaft auf allen Kontinenten repräsentiert und dabei das Ziel verfolgt, dass immer mehr Länder die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorteile der digitalen Transformation verwirklichen können. Diese Themen werden insbesondere auf dem Internet Governance Forum (IGF) diskutiert, einem Multi-Stakeholder-Forum, das von den Vereinten Nationen ausgerichtet wird. Um dort als Wirtschaft bestmöglich beitragen zu können, hat die ICC schon vor Jahren die Business Action to Support the Information Society (BASIS) gegründet, an der u.a. auch die Deutsche Telekom und SAP beteiligt sind. BASIS stützt sich dabei auf politische Positionen und Empfehlungen der ICC-Kommission Digitale Wirtschaft (ICC Commission on Digital Economy), in der Experten aller Sektoren und Regionen des weitreichenden globalen Netzwerks der ICC an Strategien und Instrumenten arbeiten, die weltweit Unternehmen dabei helfen sollen, die Vorteile der digitalen Wirtschaft und eines sicheren und offenen Internets zu nutzen. Gleichzeitig setzt sich die ICC-Kommission Geistiges Eigentum (ICC Commission on Intellectual Property) dafür ein, dass geistiges Eigentum respektiert wird und z.B. Innovationsanreize in Form gewerblicher Schutzrechte gibt. Nur so werden wir die großen gesellschaftlichen Fragen bei der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele beantworten und innovative Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels, der Ernährung der Weltbevölkerung und wie jüngst der Pandemiebekämpfung entwickeln.