Inhalt
Dr. Thomas Lennarz
Dr. Peter Wende, LL.M.

sind Partner der Kanzlei CMS Deutschland. Sie haben umfangreiche Expertise in der Betreuung von Masseverfahren in Deutschland und im europäischen Ausland. Zudem leiten sie die CMS Litigation Excellence Operations-Einheit, die auf die (kosten-) effiziente und legal tech-unterstützte Führung von umfangreichen Streitigkeiten und Masseverfahren spezialisiert ist.

Sammelklagen haben in Deutschland – anders als im anglo-amerikanischen Rechtsraum – keine lange Tradition. Erst mit der im Zuge des sog. „Dieselskandals“ im Jahr 2018 eingeführten Musterfeststellungsklage führte der deutsche Gesetzgeber – außerhalb von speziellen Rechtsgebieten – ein Verfahren zur Durchsetzung kollektiver bzw. gebündelter Ansprüche ein. Zwar kann der Musterfeststellungsklage bislang kein durchschlagender Erfolg attestiert werden (per 19.08.2021 waren gerade einmal 15 Verfahren im Klageregister des Bundesamts für Justiz veröffentlicht), ein Blick auf die Zahlen europäischer Sammelklagen zeigt jedoch, dass Sammelklagen derzeit „on the rise“ sind.

So ist die Anzahl der Sammelklagen europaweit zwischen 2018 und 2020 um über 120 % angestiegen. In einzelnen Branchen ist der Anstieg besonders dramatisch, wie der jüngst veröffentlichte CMS European Class Action Report zeigt: So wurden im Technologiesektor im Jahr 2020 15 Mal so viele Sammelklagen wie im Jahr 2017 gezählt, was einem Wachstum von 1400 % entspricht. Zurückzuführen ist dies auf den starken Anstieg von Sammelklagen in den Bereichen Datenschutz (DSGVO) sowie Verbraucher- und Wettbewerbsrecht. Allein die Datenschutz-Sammelklagen nahmen im Beobachtungszeitraum (2016-2020) um rund 1000 % zu. Die CMS-Studie zeigt allerdings, dass keine Branche immun gegen Sammelklagen ist. Neben dem Technologiesektor sind insbesondere der Finanz-, Energie- und Konsumgütersektor von Sammelklagen betroffen. So entfielen zwischen 2016 und 2020 rund 36 % aller Sammelklagen auf den Finanzsektor, gefolgt vom Energiesektor (17 %) und dem Konsumgüterbereich (9 %).

Ein Großteil der Sammelklagen wird derzeit noch in den Ländern eingereicht, die diesbezüglich eine lange Tradition haben. So werden rund 53 % aller Sammelklagen in Europa im Vereinigten Königreich eingereicht. Weitere 13 % entfallen auf die Niederlande. Deutschland rangiert mit rund 5 % im Mittelfeld, wird hier aber zukünftig eine stärkere Rolle einnehmen, wie die Entwicklungen rund um die „Dieselskandal“-Verfahren zeigen.

Wachstumsfaktoren für Sammelklagen

Was aber sind die Gründe für den extremen Anstieg von Sammelklagen in Europa? Die CMS-Studie zeigt, dass sich das Wachstum auf eine Reihe von Faktoren gründet. Zu nennen sind zum einen die zunehmende Verfügbarkeit neuer Verfahrensmechanismen, die Sammelklagen, insbesondere solche von Verbrauchern, erleichtern. Zum anderen sind die verstärkte Aktivität von auf Sammelklagen spezialisierten Anwaltskanzleien zu nennen, die die Verfahren als Geschäftsmodell für sich entdeckt haben. Als weiterer Faktor tritt die auch in Europa stark wachsende Branche der Prozessfinanzierer hinzu. Diese übernehmen als Dritte die notwendigen Kosten einer außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsdurchsetzung eine Partei und werden im Erfolgsfall prozentual am eingeklagten Betrag beteiligt. Für dieses Geschäftsmodell sind Sammelklagen besonders attraktiv. Denn bei sorgfältiger Auswahl der Fälle haben Sammelklagen das Potential, attraktive Renditen für die Prozessfinanzierer zu erzielen.

Die EU-Verbandsklagerichtlinie

Die am 24. November 2020 verabschiedete „EU-Richtlinie 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG“ hat den Weg für Sammel- oder Verbandsklagen europaweit geebnet. Die Richtlinie legt europaweite Mindeststandards für Verbandsklagen fest, überlasst aber den Mitgliedsstaaten die konkrete Ausgestaltung des rechtlichen Rahmens. Der Anwendungsbereich der Verbandsklage wird durch die Richtlinie recht weit gefasst. Neben allgemeinen Verbraucherrechten werden auch Verstöße in den Bereichen Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reisen und Tourismus, Energie, Telekommunikation, Umwelt und Gesundheit sowie Flug- und Bahnreisen erfasst. Den Mitgliedsstatten steht es aber frei, den Anwendungsbereich auf weitere Rechtsgebiete zu erweitern. Ähnlich wie bei der Musterfeststellungsklage kann die europäische Verbandsklage nur von sog. qualifizierten Einrichtungen erhoben werden. Die Mitgliedstaaten können dabei entscheiden, ob Verbraucher, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in dem Staat haben, in dem die Verbandsklage erhoben wird, sich aktiv der Verbandsklage anschließen (Opt-in-Mechanismus) oder sich explizit gegen eine Vertretung durch die qualifizierte Einrichtung aussprechen müssen (Opt-out-Mechanismus).

Die CMS-Studie zeigt in den Ländern, die entsprechende Sammelklageinstrumente vorhalten, eine stetige Zunahme von Opt-out-Sammelklagen, insbesondere im Vereinigten Königreich und den Niederlanden. Da Opt-out-Sammelklagen für die klagenden Anwaltskanzleien und Prozessfinanzierer wegen des oftmals hohen Streitvolumens sehr profitabel (und für Unternehmen entsprechend risikobehaftet) sein können, ist damit zu rechnen, dass ihre Zahl in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird. Mit Blick auf die europäische Verbandsklage bleibt insoweit aber abzuwarten, wie die Mitgliedstaaten den in der Richtlinie eröffneten Ermessenspielraum bei der Umsetzung in nationales Recht nutzen werden.

Risiko grenzüberschreitender Sammelklagen

Nicht nur vor dem Hintergrund der EU-Verbandsklagerichtlinie steigt das Risiko für Unternehmen, von einer Sammelklage betroffen zu sein. Während insbesondere multinationale Konzerne bislang nur in bestimmten Ländern, wie den USA, Kanada oder dem Vereinigten Königreich, mit einer Sammelklage rechnen mussten, ist aufgrund der skizzierten Entwicklung davon auszugehen, dass sich Sammelklagen zu einem globalen Phänomen entwickeln werden und Unternehmen, insbesondere in Europa, damit rechnen müssen, sich (ggf. in mehreren Ländern) Sammelklagen zu erwehren. Dies liegt u.a. an der zunehmenden Häufigkeit grenzüberschreitender Ereignisse, zum Beispiel Gesundheits- und Umweltkatastrophen, die mehrere Länder betreffen.

Unternehmen sollten daher mit Blick auf ihre Geschäftstätigkeit, „Risikokarten“ entwickeln, die potentiell von Sammelklagen betroffenen Bereiche und Länder identifizieren. Auf Grundlage einer derartigen Analyse kann dann im Fall der Fälle eine koordinierte, länderübergreifende Verteidigungsstrategie entwickelt werden. Fehlt es an einem solchen Überblick, läuft das Unternehmen Gefahr, den Blick für das big picture zu verlieren. Beispielsweise mag ein hilfreiches Verteidigungsargument in einer eher risikoarmen Jurisdiktion für sich genommen attraktiv sein, wird aber den Nettoschaden für das betroffene Unternehmen erhöhen, wenn diese Position in einem anderen, im Rahmen der Gesamtstrategie möglicherweise risikobehafteteren, Land, die Verteidigung angreifbar macht.

Besondere Risiken bei Produkthaftung/AI und sog. climate change litigation

Neben dem Trend zur Etablierung neuer Verfahrensmechanismen, die die Geltendmachung von Ansprüchen im Rahmen von Sammelklagen erleichtern, hat die CMS-Studie zwei Rechtsgebiete identifiziert, die mit Blick auf Sammelklagen als besonders risikobehaftet einzustufen sind. Dies betrifft die Bereiche Produkthaftung/künstliche Intelligenz (AI) und Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel, sog. climate change litigation. Mit Blick auf den Bereich Produkthaftung/AI sind Legislativakte der EU in Vorbereitung, die eine erweiterte und strengere Haftung von Unternehmen für ihre „Produkte“ (zu denen dann wohl auch digitale Güter zählen werden), ebenfalls im Rahmen von Sammelklagen, erwarten lassen. Auch mit Blick auf den Klimawandel werden in mehr und mehr Ländern Gesetze erlassen, die als Grundlage für Schadenersatzklagen dienen könnten. Zwar sind Sammelklagen in diesem Bereich noch nicht weit fortgeschritten, aber angesichts des sich rapide ändernden materiell-rechtlichen Regelwerks ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die erste „Klimawandel-Sammelklage“ eingereicht wird. Die ersten Schritte in diese Richtung sind bereits gegangen. Stand Mitte 2020 wurden weltweit bereits in über 40 Ländern climate change claims geltend gemacht. Erst kürzlich wurde der Ölkonzern Shell in einem aufsehenerregenden Urteil in den Niederlanden dazu verurteilt, seinen CO2-Ausstoß bis 2030 deutlich zu verringern. Als Kläger traten mehrere Umweltorganisationen auf, die von mehr als 17.000 Bürgerinnen und Bürgern unterstützt wurden. Der Weg zu einer echten Sammelklage ist also nicht mehr weit.

Fazit

Während die Musterfeststellungsklage im deutschen Prozessrecht noch ein Nischendasein fristet, haben Sammelklagen europaweit starken Auftrieb. Angetrieben durch ein klägerfreundliches legislatives Umfeld, spezialisierte Anwaltskanzleien und Prozessfinanzierer, birgt das europäische Sammelklageregime für Unternehmen neue Prozessrisiken. Es bleibt abzuwarten, ob sich Deutschland für ein einheitliches harmonisiertes Verfahren für Verbrauchersammelklagen entscheiden wird oder ein neues und neben die Musterfeststellungsklage tretendes Sammelklageverfahren einführen wird. Unternehmen sollten sich in jedem Fall rechtzeitig mit den neuen Verbandsklageregeln vertraut machen und geeignete Mechanismen zur Risikoprävention implementieren.

Weitere Beiträge zum Thema Litigation und Streitbeilegung >>

Bildnachweis: LEOcrafts/iStock