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Dr. Ragnar Harbst

Dr. Ragnar Harbst ist Partner der Kanzlei Baker McKenzie in Frankfurt am Main im Bereich Dispute Resolution. Zwischen 2016 und 2019 leitete er die ICC Task Force on the Accuracy of Witness Memory als Co-Chair zusammen mit José Astigarraga und Chris Newmark.

Der Zeugenbeweis ist ein wichtiger Bestandteil des Schiedsverfahrens. Es gibt kaum ein Verfahren, das ohne die Benennung von Zeugen auskommt. Und fast immer werden Zeugen, die von den Parteien angeboten werden, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung auch gehört. Einer der wesentlichen Zwecke des Zeugenbeweises ist der Beweis streitiger Tatsachen. Es leuchtet somit ein, dass die Fähigkeit von Zeugen, Tatsachen richtig zu erinnern, ein wichtiger Faktor für den Beweiswert von Zeugenaussagen ist. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die menschliche Erinnerung fehleranfälliger ist als gemeinhin angenommen. Untersuchungen belegen ferner, dass die typische Vorgehensweise im Hinblick auf den Zeugenbeweis im internationalen Schiedsverfahren das Potential hat, die Zeugenerinnerung zu beeinflussen. Grund genug für die ICC, sich dieses Themas in Form einer Task Force anzunehmen, deren Bericht nun vorliegt.

Die ICC-Kommission: Der wissenschaftliche Arm des ICC-Schiedsgerichtshofs

Die ICC-Kommission Schiedsgerichtsbarkeit und Mediation ist der wissenschaftliche Arm der ICC. Primär ist die ICC-Kommission, zusammen mit dem ICC-Schiedsgerichtshof, für den Entwurf und die Revision der ICC-Regelwerke zuständig. Daneben untersucht die Kommission aktuelle Fragen rund um das Schiedsverfahren (und alternative Formen der Streitbeilegung). Hierzu setzt die ICC-Kommission in der Regel Task Forces ein. Die hiesige Task Force setzte sich aus 152 Mitgliedern der ICC-Kommission zusammen.

Die menschliche Erinnerung: Flüchtig und fehleranfällig

Im Jahr 2011 befragten amerikanische Wissenschaftler jury-geeignete Personen zu ihren Vorstellungen über die menschliche Erinnerung. 63 % der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die menschliche Erinnerung wie eine Videokamera funktioniere, die wahrgenommene Ereignisse akkurat aufzeichne, so dass diese Ereignisse zu einem späteren Zeitpunkt wieder fehlerfrei abgerufen werden können. 48 % der Befragten stimmten der Aussage zu, dass eine einmal entstandene Erinnerung sich im Laufe der Zeit nicht ändere.[1] Wissenschaftliche Studien zur menschlichen Erinnerung zeigen, wie falsch die Aussagen sind. Der Task Force Report enthält eine ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Erinnerung und deren Fehleranfälligkeit, um einige Beispiele zu nennen:

Fehlinformationseffekt: Informationen, welche Zeugen nachträglich zu den erinnerten Ereignissen erhalten, können Teil der Erinnerung werden. Der Zeuge kann nun nicht mehr unterscheiden, ob gewisse Tatsachen Teil der ursprünglichen Erinnerung waren, oder ob sie nachträglich hinzugekommen sind (sog. source confusion). Als Quelle solcher Informationen kommen etwa schriftliche Ausführungen, Gespräche mit Kollegen oder Anwälten, öffentliche Berichte, Schriftsätze, etc. in Betracht. So mag ein Zeuge gutgläubig der Meinung sein, gewisse Tatsachen persönlich wahrgenommen zu haben und somit zu erinnern. Tatsächlich entstand die „Erinnerung“ jedoch durch nachträgliche Informationen.

Beispiel: die Zeugin ist der Auffassung, gewisse Aussagen im Rahmen einer Besprechung persönlich gehört zu haben. Tatsächlich aber war die Quelle dieser Erinnerung ein Gespräch, welches die Zeugin im Nachgang der Besprechung mit einem Kollegen geführt hat.

Solange die Information richtig ist, bleiben die Auswirkungen gering. Falsch ist dann nur die Quelle der Information. Ganz belanglos ist auch das nicht, da Juristen im Hinblick auf den Beweiswert einer Aussage auch danach unterscheiden, ob es sich um eine direkte oder eine indirekte Wahrnehmung (hearsay) handelt. In dem Beispiel glaubt die Zeugin jedoch fälschlicherweise, dass es sich um eine eigene Wahrnehmung handelt, obwohl es sich tatsächlich um hearsay handelt. Gravierender sind die Folgen, wenn die nachträgliche Information auch noch falsch ist (im Beispiel: die Zeugin glaubt eine Aussage persönlich in der Besprechung gehört zu haben, obwohl ihr lediglich ein Kollege erzählt hat, dass die Aussage gefallen sei. Tatsächlich ist die Aussage aber nicht gefallen). Dieser Fehlinformationseffekt konnte die Task Force im Rahmen eigener Versuche nachweisen. Ein ausführlicher Bericht über die Fallstudie ist Teil des Reports.

Framing Effekt: Die Zeugenerinnerung kann auch durch die Art und Weise der Fragestellung beeinflusst werden. Nachgewiesen wurde dies bereits in den 70er Jahren in Experimenten von Loftus.[2] So zeigte Loftus Probanden etwa eine Filmsequenz über einen Verkehrsunfall und befragte diese hinterher zu bestimmten Tatsachen. In einem Fall wurden Probanden in zwei Gruppen nach einem zerbrochenen Scheinwerfer gefragt. Tatsächlich war kein zerbrochener Scheinwerfer zu sehen. Die erste Gruppe wurde gefragt, ob sie „a broken headlight“ gesehen hätten, 6 % bejahten dies. In der zweiten Gruppe wurden die Probanden gefragt, ob sie „the broken headlight“ gesehen hätten, und 20 % bejahten dies. Der bestimmte Artikel, welcher das Vorhandensein des Objektes suggeriert, manipulierte also die Aussage.

Memory Implants: Weiter wurde in zahlreichen Versuchen nachgewiesen, dass durch manipulative Techniken sogar komplett falsche Erinnerungen erzeugt werden können. In einem berühmten Experiment wurden Erwachsene, die in ihrer Kindheit Disneyland besucht hatten, unter einem Vorwand zu ihren Erinnerungen befragt. Eine Frage zielte darauf ab, ob die Personen sich daran erinnerten, Bugs Bunny anlässlich des Besuches begegnet zu sein. Einer Personengruppe wurden zuvor vermeintlich in Disneyland entstandene Bilder von Personen gezeigt, die Bugs Bunny die Hand schütteln. Verglichen mit der Kontrollgruppe, der kein entsprechendes Bildmaterial gezeigt wurde, gab eine deutliche höhere Anzahl der Probanden dieser Gruppe an, sich an eine Kindheitsbegegnung mit Bugs Bunny in Disneyland zu erinnern. Tatsächlich ist diese Erinnerung jedoch falsch, da Bugs Bunny einer Warner Bros. Kreatur und somit nicht in Disneyland zu finden ist.[3]

Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für das Schiedsverfahren ableiten?

Die Task Force legt Wert auf die Feststellung, dass grundlegende Veränderungen der existierenden Verfahrenspraxis weder gefordert noch empfohlen werden. Das primäre Ziel des Reports ist es, unter Schiedsverfahrenspraktikern das nötige Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Zeugenerinnerung fehleranfällig und beeinflussbar ist. Nicht jeder Zeuge, dessen Erinnerung in Widerspruch zu anderen Zeugenaussagen oder Aufzeichnungen steht, ist ein Lügner. Vielmehr kann es sein, dass der Zeuge – gutgläubig – Tatsachen zu erinnern glaubt, welche er so ursprünglich gar nicht wahrgenommen hat. Weiter muss Praktikern bewusst sein, dass die internationale Schiedspraxis das Potential hat, die Zeugenerinnerung zu beeinflussen. Eine Haupterkenntnis der wissenschaftlichen Untersuchungen zur Erinnerung ist, dass ein hoher Grad an Interaktion zwischen Zeugen und anderen Informationsquellen (andere Zeugen, Dokumente, Schriftsätze, Rechtsanwälte) das Risiko einer Erinnerungsverfälschung birgt. Und dieser Grad der Interaktion ist im Schiedsverfahren zweifelsohne hoch. Zeugen sind oftmals mit einer der Parteien verbunden. Sie sind oft schon früh als Wissensträger in das Verfahren eingebunden, z.B. als Informationsquelle für Anwälte bei der Schriftsatzerstellung. Dadurch sind Zeugen einer Vielzahl von Informationen zu den relevanten Ereignissen ausgesetzt. Nehmen Zeugen dann zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam mit externen Anwälten eine schriftliche Zeugenaussage auf, können sie oftmals nicht mehr unterscheiden, welche Erinnerungen Gegenstand der ursprünglichen Wahrnehmung waren, und welche später hinzugekommen sind. So kann es vorkommen, dass eine schriftliche Zeugenaussage am Ende wenig mit der tatsächlichen Zeugenerinnerung zu tun hat. Oft ist sie eher das Ergebnis einer – gut gemeinten und gutgläubigen – gemeinschaftlichen Rekonstruktion der Ereignisse. Das muss man nicht unbedingt verhindern, man muss es aber wissen.

Darüber hinaus enthält der Report aber auch ausführliche Hinweise dazu, welche Maßnahmen geeignet sind, das Risiko einer Erinnerungsverfälschung zu reduzieren bzw. diese zu erkennen. Die Hinweise richten sich nicht nur an Parteivertreter im Schiedsverfahren, sondern auch an Unternehmensjuristen und Schiedsrichter. Die Task Force legt Wert auf die Feststellung, dass es sich bei diesen Hinweisen nicht um Handlungsempfehlungen oder gar „Regeln“ handelt, sondern eher um eine Art Werkzeugkasten. Aus diesem können sich die Beteiligten am Schiedsverfahren bedienen, wenn sie das Risiko einer Beeinflussung der Zeugenerinnerung reduzieren wollen. Die Hinweise bauen auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen auf und sind in anderen Rechtsbereichen, etwa im Strafrecht, bereits seit längerem verbreitet.

Um nur wenige Bespiele zu nennen: Es ist erwiesen, dass die Durchsprache relevanter Sachverhalte mit Zeugen in größeren Gruppen zu Erinnerungsverfälschungen führen kann. Erinnerungsfehler werden dadurch vermieden, dass Zeugenaussagen möglichst frühzeitig im Verfahren aufgenommen werden. Hierbei sollten Anwälte zunächst offene, neutrale Fragen stellen, also keinen vorgefertigten Sachverhalt zum „Abnicken“ bereitstellen. In geeigneten Fällen kommt es sogar in Betracht, den Zeugen selbst einen ersten Entwurf der schriftlichen Aussage erstellen zu lassen (etwa auf Basis einer Liste der Beweisthemen). Denn wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Zeugen nur bedingt in der Lage sind, Fehler in der schriftlichen Zusammenfassung ihrer Aussagen zu erkennen, die durch andere erstellt wurde. Die umfangreiche Liste möglicher Maßnahmen findet sich in Teil 4 des Reports.

Fazit

Die menschliche Erinnerung ist fehleranfällig, diese Aussage überrascht vielleicht nicht. Überraschender ist die Erkenntnis, dass die typischen Gepflogenheiten im internationalen Schiedsverfahren diese Fehleranfälligkeit eher fördern als abmildern. Deswegen müssen die Gepflogenheiten nicht geändert werden, solange die Vorteile überwiegen. Eine enge Einbindung von Zeugen in das Verfahren, die Verwendung schriftlicher Zeugenaussagen und Zeugenvorbereitung vermeiden Überraschungen und steigern die Effizienz der Beweisaufnahme. Gleichzeitig gilt es aber, ein „overengineering“ zu verhindern. Effizienz darf nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Zeugenbeweis ein Baustein ist, der den schriftsätzlichen Vortrag wie ein perfektes Puzzleteil ergänzt. Gerade diese Perfektion macht den Zeugenbeweis in den Augen mancher Schiedsrichter nämlich verdächtig, da die menschliche Erinnerung eben kein perfektes Puzzleteil ist. Etwas weniger Interaktion, Kommunikation und Abstimmung mit den Zeugen könnte somit nicht nur der Erinnerung zuträglich sein, sondern den Zeugenbeweis insgesamt aufwerten.

[1] What People Believe About How Memory Works, Simons & Chabris, 2011, PLoS ONE 6(8): e22757.

[2] Siehe dazu auch Harbst, A Counsel’s Guide to Examining and Preparing Witnesses in International Arbitration, S. 183f.

[3] Elizabeth Loftus, „Creating False Memories,“ from the Scientific American, September 1997

 

 

Der Beitrag ist im ICC-Germany-Magazin, Nr. 10, erschienen. Mehr über unser Magazin erfahren und kostenfrei abonnieren.

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