Nach jahrzehntelangen Verhandlungen und diversen Verzögerungen hat im Juni 2023 das Einheitliche Patentgericht (EPG), das derzeit bereits für einen Großteil der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) zuständig ist, endlich seinen Betrieb aufgenommen. Nach knapp zwei Jahren Praxis wird deutlich, dass sich die Erwartungen an das Gericht erfüllen und dass es zu einem wesentlichen Faktor bei der Austragung patentrechtlicher Streitigkeiten auf lokaler und internationaler Ebene geworden ist.
Die Eröffnung des Einheitlichen Patentgerichts (EPG) im Juni 2023 markierte einen Wendepunkt im internationalen Patentrecht – die wohl bedeutendste Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts. Das EPG ist ein innovatives multinationales Gericht, das für Streitigkeiten im Zusammenhang mit europäischen Patenten in 18 EU-Mitgliedstaaten mit einer Bevölkerung von rund 400 Millionen Menschen zuständig ist. Mit der Einführung des Einheitspatents (UP), das einen einheitlichen Patentschutz für diese Mitgliedstaaten bietet, vereinfacht das EPG die Patentdurchsetzung und markiert einen historischen Wandel in der europäischen Rechtsordnung. Erstmals haben zahlreiche EU-Mitgliedstaaten die nationale Gerichtsbarkeit in bestimmten Bereichen an eine gemeinsame Instanz übertragen und so ein länderübergreifendes Gerichtssystem für Patentstreitigkeiten geschaffen. Diese Entwicklung läutete eine neue Ära der Zusammenarbeit ein und gestaltet die Verwaltung und Durchsetzung geistigen Eigentums innerhalb der EU neu.
Angesichts seiner Rolle als wichtigster Gerichtsstandort für Patentstreitigkeiten im Europa der Nachkriegszeit ist es wenig überraschend, dass Deutschland mit vier lokalen EPG-Kammern und einem Teil der Zentralkammer eine Vorreiterrolle in diesem neuen System einnimmt. Auch die Verteilung der EPG-Fälle spiegelt Deutschlands Vorreiterrolle in europäischen Patentstreitigkeiten wider.
Länderabdeckung des EPG und des Einheitspatents
Von 27 EU-Mitgliedstaaten haben 24 ihre Bereitschaft erklärt, am EPG- und Einheitspatentsystem teilzunehmen. Derzeit erstreckt sich das EPG-Gebiet jedoch aufgrund noch ausstehender Ratifizierungen nur auf 18 dieser Länder (siehe Abb. 1). Zuletzt ist das UP/EPG-System am 01. September 2024 in Rumänien in Kraft getreten.
Ein Einheitspatent (UP) kann aus einem von dem Europäischen Patentamt (EPA) erteilten Europäischen Patent (EP) abgeleitet werden und erfasst alle Länder, die das EPG-Übereinkommen zum Zeitpunkt der Registrierung des UP ratifiziert haben. Das EPG ist für die Verletzung und Gültigkeit sowohl einheitlicher als auch traditioneller europäischer Patente innerhalb dieser Mitgliedsländer zuständig. Traditionelle europäische Patente können jedoch während einer Übergangszeit von sieben Jahren durch einen entsprechenden Antrag (Opt-Out) der ausschließlichen Zuständigkeit des EPG entzogen werden. Nicht-EU-Länder wie z.B. Großbritannien, die Schweiz und Norwegen können dem Einheitspatent oder dem EPG nicht beitreten und benötigen weiterhin eine separate Validierung, Aufrechterhaltung und Durchsetzung. Obwohl der neue UP-/EPG-Rahmen den Patentschutz in ganz Europa vereinfachen soll, bleibt die Navigation durch die europäische Patentlandschaft also weiterhin vergleichsweise komplex.
Struktur des EPG und Richterschaft
Das EPG besteht aus einem Gericht erster Instanz, einem Berufungsgericht und einer Geschäftsstelle. Das Berufungsgericht befindet sich in Luxemburg und wird von Dr. Klaus Grabinski geleitet, einem ehemaligen Richter des Bundesgerichtshofs. Das Gericht erster Instanz besteht aus einer Zentralkammer sowie mehreren lokalen und regionalen Kammern. Die Zentralkammer bearbeitet hauptsächlich eigenständige Nichtigkeitsklagen, während die lokalen und regionalen Kammern den Großteil der Patentverletzungsklagen, häufig einschließlich Widerklagen auf Nichtigkeit, bearbeiten.
Da die Zentralkammer primär mit Nichtigkeitsklagen befasst ist, bestehen ihre Panels aus zwei juristisch qualifizierten Richterinnen bzw. Richtern und einer Richterin oder einem Richter mit technischer Qualifikation. Letztere werden fallweise aus einem zentralen Pool zugeteilt. Die Panels der Lokal- und Regionalkammern, die Verletzungsklagen verhandeln, bestehen aus drei juristisch qualifizierten Richterinnen bzw. Richtern. Auf Antrag der Parteien oder des Panels wird diesen in der Regel eine Richterin oder ein Richter mit technischer Qualifikation beigeordnet, insbesondere wenn eine Widerklage auf Nichtigkeit erhoben wurde. Alle Panels des EPG sind multinational besetzt, indem zwingend ein Mitglied nicht aus dem Staat stammt, in dem die Kammer ihren Sitz hat.
Insgesamt wurden 42 juristisch und 75 technisch qualifizierte EPG-Richterinnen und -Richter ernannt, wobei die mit Abstand größte Anzahl davon aus Deutschland kommt. Die Vorgehensweise bei der Beurteilung von Patentverletzungen und der Rechtsbeständigkeit an den lokalen Kammern des EPG in Deutschland ähnelt bislang sichtlich dem Ansatz der deutschen Patentgerichte. Es überrascht nicht, dass die Entscheidungen der Lokal- und Regionalkammern – im zulässigen Ermessensrahmen – aufgrund der lokalen Rechtstradition einen moderat lokalen Charakter aufweisen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit das Berufungsgericht die EPG-Rechtsprechung im Laufe der Zeit straffen wird.
Erste Instanz – Fallstatistik und Zeitrahmen
Bis Ende März 2025 wurden 798 erstinstanzliche Verfahren eingeleitet (davon 289 Verletzungsklagen, 287 Gegenklagen auf Nichtigkeit und 57 eigenständige Klagen auf Nichtigkeit), was auf ein starkes Engagement der Wirtschaft hindeutet. Das Vertrauen in das Gericht scheint zu wachsen, was sich in sinkenden Opt-Out-Raten und der zunehmenden Rücknahme ursprünglicher Opt-Outs zeigt. Viele Kläger aus Nicht-EU-Staaten nutzen das Gericht auch im Rahmen ihrer internationalen Prozessstrategien.
Teil dieser Verfahren waren auch 79 Anträge auf einstweilige Maßnahmen, darunter Anträge auf einstweilige Verfügungen, Beweissicherung und Besichtigung. Dies deutet darauf hin, dass die beteiligten Parteien proaktiv versuchen, ihre Interessen durch Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz zu wahren.
Die Fallzuteilung der 57 eigenständigen Klagen auf Nichtigkeit erfolgt nach IPC-Klasse, wobei die Zentralkammer in Paris (u.a. Elektronik und Physik) mit 42 Verfahren dominiert. Auf München (u.a. Chemie und Biowissenschaften) entfallen lediglich acht Fälle, vermutlich weil viele Patente aus deren Zuständigkeitsbereich durch die Inhaber mittels Opt-Out der Zuständigkeit des EPG entzogen wurden. Auf Mailand (u.a. Arzneimittel und Medizinprodukte), das den ursprünglich für London vorgesehenen Teil der Zentralkammer erst am 27. Juni 2024 übernommen hatte, entfallen bisher sieben Verfahren.
Die Verfahren vor dem EPG unterliegen einem strengen zeitlichen Regime, das auf ein frühes, umfassendes Vorbringen der Parteien und die Nichtzulassung verspäteten Vorbringens ausgerichtet ist, Fristverlängerungen sind nur in besonderen Ausnahmefällen vorgesehen, um einen zügigen Abschluss des Verfahrens zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund ist hervorzuheben, dass das EPG bisher sein Ziel im Wesentlichen durchgängig erreicht hat, eine erstinstanzliche Entscheidung innerhalb von etwa zwölf Monaten nach Einleiten des Verfahrens zu erlassen.Insgesamt zeigt die Statistik nicht nur die äußerst positive Resonanz, die das EPG erfährt, sondern spiegelt auch die sich entwickelnde Dynamik der EPG-Patentstreitigkeiten in Europa wider. Während das Gericht seine Autorität weiter ausbaut, geben diese Zahlen wertvolle Einblicke in den Umgang der Beteiligten mit dem neuen Rechtsrahmen. Dies setzt die Parteien unter erheblichen Zeitdruck und hat weitreichende Auswirkungen auf die Zulässigkeit später vorgebrachter Tatsachen und Argumente. Daher betont das Gericht bisher konsequent den auf frühzeitiges vollständiges Vorbringen ausgerichteten Charakter des Verfahrens.
Berufung
Verfahrens- und Sachfragen
Beim erstinstanzlichen Gericht des EPG hat sich die vorherrschende Verfahrenssprache zwischenzeitlich auf Englisch verlagert (54 Prozent), Deutsch folgt mit 39 Prozent.
Das Berufungsgericht hat bereits wichtige Leitlinien für EV-Verfahren (einstweilige Verfügung) gesetzt und deren wesentlichen Anforderungen umrissen (Ermessensentscheidung mit hinreichender Sicherheit, Vermutung der Antragsberechtigung bei Eintrag im Register, Nachweis der Patentverletzung erforderlich, Rechtzeitigkeit des Antrags, Vermutung der Rechtsbeständigkeit des Patents, Beweislast für die Nichtigkeit beim Beklagten). Auch die Betonung einer Anspruchsauslegung unter Einbeziehung der Beschreibung und Zeichnungen und die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ohne das Erfordernis, den „nächstliegenden Stand der Technik“ zu ermitteln, stellen wichtige Leitlinien dar. Dieser Ansatz ähnelt der deutschen Praxis und erhöht die Anforderungen an die Rechtsbeständigkeit im Vergleich zur Praxis des EPA.
Das Patent kann als Reaktion auf einen Nichtigkeitsangriff geändert werden, wobei die Anzahl der Hilfsanträge nach Auffassung des Berufungsgerichts zur Verteidigung des Patents angemessen sein muss. Es bleibt abzuwarten, was dies im konkreten Fall bedeuten soll.
Fazit und Ausblick
Der eigenständige Ansatz des EPG zur Anspruchskonstruktion und zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit stellt eine deutliche Abweichung von der Praxis des EPA dar. Er beeinflusst die Patentauslegung und -durchsetzung und setzt gleichzeitig neue Standards in der Prozessführung in ganz Europa. Von besonderem Interesse wird sein, welche Position das EPG zu FRAND-Einwänden in Fällen standardessenzieller Patente (SEP) einnehmen wird.
Die rasante Entwicklung der Rechtsprechung des EPG wird die Landschaft des europäischen und internationalen Patentrechts wesentlich beeinflussen. Die Statistik zeigt ein starkes Engagement der Wirtschaft und Vertrauen in die Fähigkeit des EPG, komplexe Patentstreitigkeiten innerhalb kurzer Zeit (etwa zwölf Monate) zu entscheiden.
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