„Whistleblowing“ ist z.B. zentral für eine effektive Korruptionsbekämpfung, aber auch für das Aufdecken anderer Missstände. Welche Rolle spielt das Thema für die globale Wirtschaft?

Dr. Anna-Maija Mertens:

Whistleblowing ist ein wichtiges Instrument, um Missstände in allen Gesellschaftsbereichen – in der Politik, Wirtschaft und auch Zivilgesellschaft – zu entdecken. Bei Korruption handelt es sich um ein sog. „Dunkeldelikt”, d.h. der Machtmissbrauch bleibt zunächst sichtbar nur für die Täterinnen und Täter – die Bestechenden und Bestochenen – daher braucht es Information von „Insidern”, damit er entdeckt und bekämpft werden kann. Wenn Korruption nicht entdeckt wird, verfestigt sie sich in den Strukturen und Prozessen von Organisationen/Firmen und schwächt das gesamte System, da sie das Vertrauen der Menschen in das System untergräbt. Die globale Wirtschaft hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit der Menschen und trägt daher auch eine besondere Verantwortung, mit gutem Beispiel voranzugehen sowie hohe ethische Standards anzulegen.

Oliver Wieck:

ICC ist die weltweit größte Wirtschaftsorganisation mit mehr als über 45 Millionen Mitgliedern. „Whistleblowing“ ist für uns und unsere Mitglieder ein wichtiges Thema. Laut einer Studie von PwC aus dem Herbst erstellen fast alle Unternehmen mit Whistleblower-Hotlines Berichte über eingegangene Hinweise (90 Prozent); 60 Prozent haben eine interne Richtlinie, wie mit Hinweisen umzugehen ist, in Angriff genommen; 40 Prozent haben einen definierten Prozess zum Umgang mit Hinweisen. Unternehmen sind sich zunehmend bewusst, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, wenn Fehlverhalten gemeldet und adressiert werden muss, um Schaden nicht nur für die Gesellschaft als solche, sondern auch für Unternehmen abzuwenden. Denn der Verlust an Vertrauen der Stakeholder bzw. eine negative Reputation haben unmittelbare Auswirkungen auch auf den Unternehmenswert. Unser Ziel ist es deshalb, alle Unternehmen für den Aufbau entsprechender Systeme zu gewinnen.

Was hat effektives „Whistleblowing“ für konkrete Vorteile für Unternehmen?

Dr. Anna-Maija Mertens:

Effektives „Whistleblowing” legt die Schwachstellen und Fehler einer Organisation offen, woraufhin diese behebt werden können. Dieses hilft dem Management, kontinuierliche Verbesserungsprozesse effizient voranzutreiben, das Unternehmen von innen aus zu stärken und widerstandsfähig zu machen.

Oliver Wieck:

Wenn Unternehmen Systeme einrichten, um interne Missstände aufzuklären und proaktiv dagegen vorzugehen, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangen, können sie nicht nur Imageschäden minimieren, sondern auch massive Bußgelder verhindern bzw. reduzieren. So erhielten Unternehmen im Rahmen des US-Gesetzes über korrupte Praktiken im Ausland im Jahr 2019 Strafen in Höhe von insgesamt 2,9 Milliarden US-Dollar, dies waren durchschnittlich sieben Prozent ihres Jahresumsatzes. Interne Berichte können dazu beitragen, einen erheblichen Teil dieser Fälle aufzudecken und so finanzielle Risiken zu minimieren. Es liegt daher im ureigensten Interesse der Unternehmen, diese Risiken zu adressieren und durch den Aufbau interner Whistleblowing Systeme zu reduzieren. Erfolgreiche Unternehmensführung wird heutzutage zurecht auch daran gemessen, wie mit solchen Risiken umgegangen wird.

Was sind typische Fälle, über die Whistleblower berichten?

Oliver Wieck: Typische Fälle betreffen ja häufig die Bereiche Korruption, Diskriminierung und/oder Belästigung am Arbeitsplatz, Gesetzesverstöße und Straftaten, Bestechlichkeit bzw. Bestechung etc. Diese Fälle können unterschiedlich große Risiken bzw. Konsequenzen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Unternehmen oder ganze Länder bergen. Daher gilt es, unethisches Verhalten und Missstände frühzeitig aufzudecken bzw. unerlaubte Bereicherungen oder andere Straftaten zu verhindern. Das ist ein Auftrag an alle, mittelständische ebenso wie global aufgestellte Unternehmen.

Dr. Anna-Maija Mertens:

Die Fälle, über welche Whistleblower berichten, sind sehr unterschiedlich. Allerdings melden Menschen in der Regel nur gravierende Missstände, die den Mitarbeitern oder der Gesellschaft schaden, wie bspw. sexuelle Nötigung, Betrug, Bestechung von Amtsträgern, etc. und keine Bagatelldelikte. Der Wirecard-Fall ist eines dieser Beispiele. Die Hürde, einen Missstand zu melden, ist sehr hoch, insbesondere in Ländern, in denen es noch keinen gesetzlichen Hinweisgeberschutz gibt, wie zum Beispiel derzeit noch in Deutschland.

Wie kann man das Thema auf internationaler Ebene angehen?

Dr. Anna-Maija Mertens:

Wichtig wäre es, sich international über die unterschiedlichen Erfahrungen und „best practices” bezüglich des Schutzes von Whistleblowern auszutauschen, auch um gemeinsam internationale Standards zu entwickeln und gesetzlich zu verankern. Hilfreich sind auch vertrauliche Runden für den Austausch zwischen Unternehmen, um offen über Dilemma und Schwierigkeiten hinsichtlich der praktischen Umsetzung von Gesetzen sprechen zu können. Dieses Format organisieren wir bereits mit unseren korporativen Mitgliedern und haben damit sehr positive Erfahrungen gemacht. Letztendlich sind es die internationalen Standards und Regelungen, die die notwendige Veränderung herbeiführen; Korruption kann man nur mit internationalen Ansätzen effektiv bekämpfen.

Oliver Wieck:

Die ICC hat in diesem Jahr die überarbeiteten  „Guidelines on Whistleblowing“ herausgebracht. Sie beziehen Erfahrungen und „best practice“ aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Sektoren und Branchen ein, berücksichtigen aber auch bestehende Standards wie die 2021 ISO 37002 Guidelines oder die EU-Richtlinie aus 2019. Die ICC-Leitlinien geben Hinweise zur richtigen Auswahl der Ansprechpartner:in, der Einrichtung sicherer „Kanäle“ zur Meldung von Missständen und ihrer Integration in die Unternehmenskommunikation. Denn Identitätsschutz und der Verzicht auf Maßnahmen gegen Whistleblower sind der Grundstein eines effektiven und vertrauenswürdigen Whistleblowing-Systems. Klar muss aber auch sein: Einen „One-Size-Fits-All“-Ansatz kann es nicht geben. Whistleblowing-Management-Systeme müssen immer auch im kulturellen Kontext mitgedacht und entsprechend in die Unternehmen integriert werden.

Welchen Mehrwert hat hier eine Partnerschaft zwischen Transparency Deutschland und ICC?

Oliver Wieck:

Im Rahmen unseres ICC-Netzwerks bieten wir den Unternehmen Hilfestellung an und globale Richtlinien, an denen sie sich orientieren können. Diese werden über die ICC von der Wirtschaft für die Wirtschaft entwickelt. Wir brauchen aber auch den Blick von außen und den fachlichen Austausch mit Organisationen wie Transparency Deutschland. Wir ergänzen uns hier gegenseitig: Wir als ICC bringen die Perspektive der globalen Wirtschaft ein und suchen damit auch den Dialog und thematischen Austausch mit Transparency Deutschland. Wenn wir unsere beiden Netzwerke zu Themen von gemeinsamem Interesse zusammenbringen, erreichen wir zudem eine größere Durchschlagskraft.

Dr. Anna-Maija Mertens:

Der strategische Ansatz von Transparency Deutschland ist, die Öffentlichkeit für die Antikorruptionsarbeit zu sensibilisieren, Koalitionen gegen Korruption unter Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu schmieden sowie Lobbyarbeit für bessere Antikorruptionsgesetze zu betreiben. Es liegt oft an der Wirtschaft, die Antikorruptionsgesetze richtig umzusetzen. Daher ergibt es viel Sinn, schon bei der Entwicklung der Forderungen einen institutionellen Austausch zwischen Transparency Deutschland und ICC zu etablieren, damit unsere Forderungen   umsetzbar und nicht von der Praxis abgekoppelt sind.

 

Anna-Maija Mertens ist Geschäftsführerin von Transparency Deutschland. Oliver Wieck ist ICC Germany-Generalsekretär.