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Dr. Sven Lange

ist Counsel der Kanzlei Busse Disputes. Er ist insbesondere in internationalen Investitionsschiedsverfahren tätig, in denen er sowohl Investoren als auch Staaten vertritt.

Marlene Ella Sauer, LL.M. (UTS)

ist Associate der Kanzlei Busse Disputes. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt auf handelsrechtlichen Schiedsverfahren. Sie war mehrere Jahre bei beim ICC-Schiedsgerichtshof in Paris als Deputy Counsel tätig.

Grundlagen für die Schadensschätzung durch Schiedsgerichte

Die Möglichkeit der Schadensschätzung durch Gerichte ist häufig in nationalen Prozessordnungen (z.B. § 287 ZPO) oder dem nationalen materiellen Recht (z.B. Artikel 42(2) des Schweizer Obligationenrechts) vorgesehen. Regelmäßig finden diese Vorschriften in Schiedsverfahren jedoch keine (auch keine analoge) Anwendung – das gilt vor allem für § 287 ZPO. Schiedsordnungen und Schiedsverfahrensgesetze enthalten wiederum in der Regel keine spezielle Vorschrift zur Schadensschätzung. Vielmehr wird für die Schadensschätzung auf die generellen Vorschriften zur Beweiswürdigung zurückgegriffen. Für Verfahren unter der Schiedsordnung der Internationalen Handelskammer („ICC‑SchO“) ist diesbezüglich Artikel 25 der ICC‑SchO in der Fassung seit dem 1. März 2017 maßgeblich. Gemäß Artikel 25(1) ICC‑SchO stellt „das Schiedsgericht den Sachverhalt in möglichst kurzer Zeit mit allen geeigneten Mitteln fest.“ Ein geeignetes Mittel ist unter anderem die Schadensschätzung. Entsprechend kann die Feststellung der Tatsachen zum Schaden (und damit auch zur Höhe des Schadens) durch eine Schätzung erfolgen, die die vorgelegten Beweise berücksichtigt.

Anwendungsbereiche der Schadensschätzung

Schadensschätzungen kommen in verschiedenen Konstellationen in Betracht. Ein Anwendungsbereich sind Fälle, in denen ein Kläger Ersatz für seine tatsächliche Investition, etwa in der Form von Sacheinlagen, verlangt, aber den entsprechenden Betrag wegen fehlender Dokumentation nicht mit letzter Sicherheit belegen kann. In solchen Fällen können Schiedsgerichte auf Basis der vorhandenen Informationen entsprechende Schätzungen vornehmen.

Typisch sind Schadensschätzungen im Übrigen in Fällen, in denen ein Kläger entgangenen Gewinn geltend macht und das Schiedsgericht hinsichtlich der Höhe des entgangenen Gewinns Unsicherheiten sieht. Hier kann beispielsweise ein pauschaler Abschlag von dem vom Kläger berechneten entgangenen Gewinn geschätzt werden, um den Unsicherheiten Rechnung zu tragen. Beispielhaft kann insoweit ICC‑Fall Nr. 16958 (erschienen im Bulletin Nr. 2 aus 2016) erwähnt werden. Hier hatte ein Hotelmanager entgangenen Gewinn aus einem Hotelmanagementvertrag nach vorzeitiger Kündigung durch den Investor gefordert. Im Schiedsverfahren legte der Hotelmanager ausführliche Berechnungen vor. Der Investor widersprach und machte insbesondere geltend, dass die Berechnungen des Hotelmanagers mit vielen Unsicherheiten verbunden seien. Unter anderem sei nicht gewiss, wie viele andere vergleichbare Hotels im fraglichen Zeitraum in der Nähe des Hotels eröffnet worden wären und welche Auswirkungen die Finanzkrise in Europa auf die durchschnittlichen Übernachtungszahlen gehabt hätte. Das Schiedsgericht hielt die Angaben des Hotelmanagers zwar grundsätzlich für verlässlich, sah aber auch ein Bedürfnis dafür, die vom Investor geltend gemachten Unwägbarkeiten einzubeziehen. Das Schiedsgericht machte daher von seiner Schätzungsbefugnis Gebrauch und entschied, das Berechnungsergebnis des Hotelmanagers um 25% zu reduzieren.

In eine ähnliche Richtung gehen Fälle, in denen der geschätzte Wert einer entgangenen Geschäftschance ersetzt wurde. In solchen Fällen ist noch nicht einmal sicher, dass dem Kläger tatsächlich Gewinn entgangen ist. Gleichzeitig steht aber fest, dass zumindest eine Geschäftschance bestand, welche als solche einen gewissen Wert hatte. In entsprechenden Fällen lehnen Schiedsgerichte es regelmäßig ab, entgangenen Gewinn zuzusprechen. Vereinzelt haben Schiedsgerichte hier jedoch den Wert der verlorenen Geschäftschance zugesprochen, welchen sie im Wege eines sehr erheblichen Abschlags auf den möglichen entgangenen Gewinn geschätzt hatten.

Komplexer wird die Situation, wenn nicht lediglich gewisse Unsicherheiten beim entgangenen Gewinn pauschal durch Abschläge zu berücksichtigen sind, sondern das Schiedsgericht die Annahmen der Schiedsklägerin hinsichtlich der faktischen Grundlagen der Schadensberechnung nicht durchgehend teilt. Die Berechnung entgangenen Gewinns erfordert typischerweise eine Einschätzung dazu, wie sich ein Geschäft ohne das schädigende Ereignis entwickelt hätte. Es muss also ein hypothetischer Geschehensablauf bestimmt werden, was eine Vielzahl von Annahmen erfordert. Zur Berechnung der Schadenshöhe greifen die Parteien sodann (unter Zuhilfenahme von Sachverständigen) auf komplexe Rechenmodelle zurück, die diese Annahmen berücksichtigen. Folgt das Schiedsgericht nur einer Annahme nicht, die einer Berechnung zu Grunde gelegt wurde, kann dies schnell zu völlig anderen Ergebnissen führen.

Optionen der Schiedsgerichte bei Abweichung von Annahmen

Schiedsgerichte haben verschiedene Optionen, wenn sie von den Annahmen der Schiedsklägerin abweichen. Ein Schiedsgericht kann nach Mitteilung der Annahmen, auf die es sich stützen will, die Parteien auffordern, zur Höhe des Schadens unter diesen Annahmen vorzutragen und gegebenenfalls weitere Gutachten einzuholen. Insoweit kommt auch und insbesondere der Erlass eines Teilschiedsspruchs oder eines Hinweisbeschlusses mit anschließender Fortsetzung des Verfahrens in Frage. Dieses Vorgehen kann sich allerdings als sehr zeitaufwändig und kostenintensiv erweisen, da hierdurch das Verfahren in mehrere Verfahrensabschnitte unterteilt wird, mehrere Anhörungen zu unterschiedlichen Themen durchgeführt und Gutachten doppelt eingeholt werden müssen. Prozessual wesentlich einfacher ist demgegenüber die Schätzung des Schadens durch das Schiedsgericht. Hier legt das Schiedsgericht die Berechnungen der Parteien zu Grunde, und schätzt sodann den Schaden, um den unterschiedlichen Annahmen Rechnung zu tragen.

Bei der Wahl zwischen diesen Optionen muss ein Schiedsgericht zwischen dem Interesse an einer möglichst richtigen Entscheidung und dem Interesse an einer zügigen und effizienten Verfahrenserledigung abwägen. In einer solchen Situation wird ein gutes Schiedsgericht evaluieren, inwieweit seine eigenen faktischen Annahmen von den Annahmen der Parteien bei deren Schadensberechnung abweichen und inwieweit diese Annahmen sich überhaupt auf den entgangenen Gewinn auswirken. Sind die Auswirkungen eher geringfügig, wären weitere Schriftsätze und Gutachten zum Thema unangemessen; eine Schadensschätzung wäre dann die wesentlich sinnvollere Alternative. Sind die Abweichungen jedoch erheblich und fehlt dem Schiedsgericht eine ausreichende Grundlage, um ihr genaues Ausmaß einzuschätzen, wird ein gutes Schiedsgericht seine Annahmen mitteilen und weiteren Partei- und Gutachtervortrag einholen, bevor es entscheidet.

Eingeschränkte Überprüfbarkeit von Schiedssprüchen im Falle von Schadensschätzungen

Schiedssprüche unterliegen grundsätzlich einer sehr eingeschränkten Überprüfbarkeit durch staatliche Gerichte. Deshalb kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob die Begründung eines Schiedsspruchs inhaltlich richtig ist. Entsprechend kann ein Schiedsspruch mit Blick auf eine Schadensschätzung in aller Regel nicht aufgehoben werden, und ebenso kann seine Vollstreckung nicht aufgrund der Schadensschätzung verweigert werden.

Etwas anderes kann in Ausnahmefällen gelten, wenn die Begründung der Schadensschätzung völlig unzureichend ist. Fehlt bei einem Schiedsspruch die Begründung, so widerspricht dies den vereinbarten oder gesetzlich vorgesehenen Grundsätzen der Schiedsgerichtsbarkeit und führt in der Regel zur Aufhebbarkeit und Nicht-Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs. Ist ein Schiedsspruch nur teilweise begründet, kann dies in Ausnahmefällen ebenfalls zur Aufhebung und Nichtvollstreckung führen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn sich die Begründung auf inhaltsleere Wendungen beschränkt oder sie offensichtlich widersinnig oder lückenhaft ist, sodass sie nicht mehr nachvollziehbar ist.

Bei Schadensschätzungen besteht typischerweise das Risiko, dass die Begründung nicht ins letzte Detail nachvollziehbar ist. Denn das Schiedsgericht sieht hier gerade davon ab, die Schadenshöhe mit mathematischer Genauigkeit zu bestimmen. Nichtsdestotrotz wird dies in der Regel nicht zur Aufhebbarkeit oder Nichtvollstreckbarkeit des Schiedsspruchs führen. Mit Blick speziell auf Schadensschätzungen hat ein deutsches Gericht entschieden, dass eine Schätzung des Schadens zulässig sei, wenn sie unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung erfolge und nicht „mangels greifbarer Anhaltspunkte völlig in der Luft“ hinge. Verständige Schiedsrichter werden daher in ihren Schiedsspruch aufnehmen, welchen Annahmen und Berechnungen der Parteien oder Sachverständigen sie folgen, wo sie abweichen und wo sie geschätzt haben, und wie sich dies auf den Wert auswirkt. Bei einem solchen Vorgehen wird der Schiedsspruch nicht wegen einer fehlenden Begründung aufhebbar sein.

Die Ermessensfreiheit des Schiedsgerichts wird auch durch den Anspruch auf rechtliches Gehör beschränkt. Rechtliches Gehör erfordert, dass den Parteien die Sachverhaltselemente, die zur Entscheidung führen, bekannt sind und ihnen ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird. Das Schiedsgericht hat sodann das Parteivorbringen zur Kenntnis zu nehmen und für seine Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Ein umsichtiges Schiedsgericht wird daher in der Begründung des Schiedsspruchs für die Parteien kenntlich machen, dass (und wie) es ihren Vortrag im Rahmen der Schadensschätzung berücksichtigt hat.

Fazit

Schiedsgerichte können im Rahmen ihrer freien Beweiswürdigung Schadensschätzungen vornehmen und haben dabei einen erheblichen Ermessensspielraum. Nützlich ist dies vor allem, wenn das Schiedsgericht von den Annahmen der Schiedsklägerin zum entgangenen Gewinn abweicht. Gute Schiedsgerichte werden dabei abwägen, wie weit die Abweichung reicht, und ob vor diesem Hintergrund neuer Partei- und Gutachtervortrag erforderlich ist – oder ob die Abweichung sinnvollerweise durch Schätzung adressiert werden kann. Eine Aufhebung eines Schiedsspruchs aufgrund einer Schadensschätzung wird nicht in Betracht kommen, sofern das Schiedsgericht gewisse Verfahrensgrundsätze eingehalten hat.

 

Der Beitrag ist im ICC-Germany-Magazin, Nr. 10, erschienen. Mehr über unser Magazin erfahren und kostenfrei abonnieren.

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