Wie fragil sind internationale Lieferketten? Spätestens mit den Jahren 2020 und 2021, als Lieferungen pandemiebedingt ins Stocken gerieten, ist ihre Zukunft zum Gegenstand ernsthafter Debatten geworden. Das spiegelte sich in der von ICC Germany organisierten ICC-Veranstaltungsreihe „The Future of International Supply Chains – sustainable, digital, smart“ wider. Nach der Eröffnung des Forums im Juni, die von rund 600 Teilnehmenden in über 40 Ländern am Bildschirm verfolgt wurde, widmeten sich Fachleute bis Ende Oktober mehreren Entwicklungen entlang der globalen Warenpipeline – positiven wie negativen. „Wenn es etwas Positives an der Pandemiesituation gibt, dann die Beschleunigung der Digitalisierung, die Skalierung von Technologien und das Überdenken von Lieferketten“, sagte Holger Bingmann, Präsident der ICC Germany, in seiner Auftaktrede. Daneben diskutierten Expertinnen und Experten Fragen der Finanzierung und Due Diligence, das protektionistische Umfeld sowie die ökologische und soziale Nachhaltigkeit.

„Nearshoring ist ein Mythos“

„Spannungen, Knappheit, Geschäftseinbußen und Anfälligkeit bei der Versorgung“: So fasste Pamela Coke-Hamilton, Executive Director des International Trade Centre (ITC), anlässlich der Eröffnung die Folgen von Nachfragerückgang und Grenzsperren zusammen. Zwar hat sich die Nachfrage wieder erholt. „Der Handel ist nicht nur in Asien, sondern auch in Europa und Amerika wieder im Kommen“, sagte Holger Bingmann. Fernsehbilder vom spektakulär verstopften Suezkanal, in dem ein Containerfrachtschiff feststeckte, haben jedoch vor Augen geführt, dass auch im Weiter-so Risiken bestehen. Visuell weniger präsent, aber noch dramatischer, waren die Folgen COVID-19-bedingter Abfertigungsprobleme in Yantian, dem Haushafen des südchinesischen Wirtschaftszentrums Shenzen, oder die coronabedingte Schließung eines Chip-Zulieferers in Malaysia, in deren Folge dann Produktionsbänder in Deutschland stillstanden.

Unternehmen arbeiten daher daran, ihre Lieferketten widerstandsfähiger zu machen. Die häufig propagierte Verlagerung von unternehmerischen Prozessen ins näher gelegene Ausland kann kein Allheilmittel sein. So betont der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium Ulrich Nußbaum: „Der internationale Handel hat uns geholfen, die Krise zu bewältigen.“ Einem Rückzug der Wirtschaft in heimische Gefilde erteilte er aus Regierungssicht eine Absage. „Wir wollen keine Nationalisierung der Produktion. Das würde zu Ineffizienz und hohen Kosten führen und ein protektionistisches Signal an die Welt aussenden.“ Weil das sogenannte Nearshoring mit Preisaufschlägen verbunden ist, glaubt Frank Appel, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post DHL Group, nicht daran. „Nearshoring ist ein kompletter Mythos“, sagte er. „Kein einziger Verbraucher wird für zusätzliche Kosten aufkommen, nur weil die Produkte in der Nähe hergestellt werden.“ Umgekehrt sei auch für höhere Ausfallsicherheiten die Zahlungsbereitschaft begrenzt. Um die Logistik widerstandsfähiger zu gestalten, befürwortet er die Diversifizierung von Lieferketten: mehr Produktionsstandorte und intelligent verteilte Lagerbestände. Zwar gab es in der Pandemie gelegentlich Kapazitätsengpässe – insgesamt habe die Lieferkette jedoch funktioniert. „Ich kann mit Stolz sagen, dass unsere Industrie der Welt wirklich geholfen hat, irgendwie auf Kurs zu bleiben“, sagte der Deutsche-Post-Vorstand. „Die Globalisierung ist nicht das Problem, sondern die Antwort auf das Problem“, so Appels Fazit.

Digital eingebundene Unternehmen kamen besser durch die Krise

Nicht zuletzt würde ein solcher Paradigmenwechsel der Industrieländer denen eine wirtschaftliche Perspektive rauben, die von Krisen ohnehin am stärksten getroffen werden: Kleinst-, Klein- und Mittelbetriebe (KKMU), vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern. „Viele dieser Zulieferer sind Teil internationaler Lieferketten“, sagte Pamela Coke-Hamilton vom ITC. Die Entwicklungsorganisation von UN und WTO setzt sich ebenso wie die ICC für die Einbindung der KKMU in die Weltwirtschaft ein.

Laut einer Unternehmensbefragung in 132 Ländern gerieten vor allem solche Kleinunternehmen in die pandemiebedingte Krise, die ihr Geschäft nicht ins Internet verlagern konnten. „KKMU, die noch nicht in digitale Geschäfte investiert hatten, hatten es sehr schwer, sich umzustellen“, sagte Coke-Hamilton. Neben beruflicher Qualifizierung sowie niedrigeren Kosten für Kredite und Due Diligence forderte sie darum die digitale Ertüchtigung weiter Teile der Welt. Online-Shops in Asien und Amerika, Tech-Start-ups in Afrika, Online-Netzwerke für junge Unternehmen – all das setze Konnektivität voraus. Doch 3,7 Milliarden Menschen hätten noch nicht einmal einen Internetanschluss.

Prozesse der globalen Warenversorgung immer stärker zu digitalisieren, gilt nicht zuletzt für die Logistiker selbst als Chance. „Die Digitalisierung ist für unsere Branche eine fantastische Nachricht“, sagte Deutsche-Post-Vorstand Appel. „Sie wird uns helfen, unsere Lieferketten viel schlanker, viel transparenter und viel effektiver zu gestalten“, was auch im Kampf gegen Korruption ein Vorteil sei. Unterm Strich steht ein dickes Plus: „Wir sind uns einig, dass die Digitalisierung für mehr Sicherheit in den Abläufen sorgen wird und damit nicht zuletzt auch dazu beiträgt, Geld zu sparen.“, sagte Holger Bingmann. Wenn die Kosten der Lieferkette sinken, wird Geld für andere Zwecke frei – etwa für eine nachhaltigere Wirtschaftsweise.

Globaler Handel ist nicht zwangsläufig weniger ökologisch

Fragen globaler Verteilung, sozialer Rechte und elementaren Umweltschutzes werden immer mehr auch mit Blick auf die Lieferkette gestellt. „Verbraucher interessieren sich zunehmend dafür, wie Waren hergestellt werden, woher sie stammen, wer in der Wertschöpfungskette mitwirkt und wie diese Lieferanten behandelt werden“, sagte Pamela Coke-Hamilton. Einer dreifachen Bilanz zufolge sollten Lieferantenbeziehungen künftig ebenso zuverlässig sein wie ökologischen und sozialen Standards genügen. Dass der Weg noch weit ist, berichtete Norbert Barthle, Parlamenta-rischer Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Mit der Corona-Schockwelle gerieten demnach in armen Ländern Millionen Menschen in Existenznot, die Arbeitsbedingun-gen verschlechterten sich, die Umweltzerstörung nahm zu und es gab mehr Menschenrechtsverletzungen. „Das sind Zustände, die wir nicht zulassen können,“ so Barthle.

Andere Negativschlagzeilen betreffen den Boom im Online-Handel, hat Deutsche-Post-CEO Frank Appel registriert. E-Commerce soll schlecht für die Umwelt sein? Unter Berufung auf firmeneigene Berechnungen stellt er fest, dass es ökologischer ist, eine Bestellung im E-Commerce aufzugeben, als mit dem Auto einkaufen zu fahren. „Ab drei Kilo-meter haben Sie den gleichen CO2-Fußabdruck wie wir für den gesamten End-to-End-Prozess“ – das heißt für den Transport aus Fernost bis zur Haustür.

Internatationale Lieferketten: Bei vielen Initiativen ziehen Wirtschaft und Politik an einem Strang

Fragen nach der Zukunftsfähigkeit Lieferkette sind nicht neu. Für viele Bereiche gibt es mit der Digitalisierung und der Nachhaltigkeitsorientierung sogar schon passende Antworten. „Wir müssen jetzt vom Denken zum Handeln übergehen“, sagte darum der Präsident von ICC Germany, Holger Bingmann. Wer die Redebeiträge allein schon der Auftaktveranstaltung verfolgte, konnte den Eindruck gewinnen, dass die Umsetzung bereits in vollem Gange ist. Vertreterinnen und Vertreter von Verbänden, Firmen und Politik zählten viele Initiativen auf, die die Lieferkette nachhaltiger, digitaler und widerstandsfähiger machen sollen:

  • Die ITC beteiligt sich an Digitalisierungsprojekten „Broadband Commission“ und „Smart Africa“ sowie am „Global Trade Helpdesk“. Letzteres zielt wie das „Go Trade“-Programm der Deutschen Post und die „Business Scouts for Development“ des BMZ auf die Vernetzung naher und ferner Marktteilnehmer ab.
  • Die ICC etabliert 20 „Centres of Entrepreneurship“ für Start-ups in krisengeschüttelten Volkswirtschaften und führt ebenfalls eine Kampagne zur Digitalisierung von Kleinunternehmen in Afrika durch.
  • Die Staatssekretäre verwiesen auf das deutsche Lieferkettengesetz, höhere Etats für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Textilinitiative, das Forum „Nachhaltiger Kakao“, das digitale Projekt „Digitizing Global Trade„und die Plattform „Gaia-X“.
  • Unternehmen legen sich Selbstverpflichtungen auf, etwa die Deutsche Post, die bis 2030 umweltfreundliche Investitionen von 7 Milliarden Euro tätigen will, darunter in E-Autos und nachhaltiges Flugbenzin.

So lang diese Liste ist, umfasst sie doch nur einen Bruchteil der Aktivitäten zur Umgestaltung der Lieferkette. So sieht etwa der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) vor, die Industrie als „zentralen Treiber der Entwicklung einer Circular Economy“ aufzustellen. Derzeit verhindern regulatorische Hemmnisse, dass ein EU-weiter Markt für Sekundärrohstoffe entsteht. Mit Rezyklaten anstelle von Primärrohstoffen ließen sich Ressourcen sparen, sei es Stahl, Aluminium, Blei, Papier, Kunststoff, Baumaterial oder Holz. Das ist leichter gesagt als getan: „Die Herausforderungen einer umfassenden Kreislaufwirtschaft sind ähnlich groß wie die Dekarbonisierung des Energiesystems“, sagte Holger Lösch, stellvertretender BDI-Hauptgeschäftsführer.

Auch bei der Klimaneutralität der Lieferkette ist noch viel Arbeit nötig, um Willenserklärungen in die Tat umzusetzen. Zwar schlagen sich Umwelt- und Klimaschutzbestimmungen immer stärker in Handelsabkommen nieder, wie die Außenhandelsexpertin des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Galina Kolev, festgestellt hat. Deren Zahl ist binnen 30 Jahren von rund 20 je Abkommen auf knapp 80 gewachsen, was laut Kolev die „rasant steigende Bedeutung solcher Bestimmungen“ belege. Andererseits weist sie darauf hin, dass die wünschenswerte Verbreitung von Klimaschutztechnologie durch den Abbau von Handelsbarrieren profitieren würde. Die Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO zum Environmental Goods Agreement (EGA) von 2014 bis 2016 waren zunächst nicht erfolgreich. Doch es mehren sich die Zeichen, dass viele Länder weltweit daran interessiert sind, die Zölle und andere Handelshemmnisse für umweltrelevante Güter, etwa Windräder oder ressourceneffiziente Produkte, abzuschaffen. Daher ist es denkbar, dass in den kommenden Jahren neue Abkommen und Strukturen entstehen, im deren Rahmen eine Liberalisierung des Handels mit solchen Produkten erreicht wird.

Internationale Lieferketten stehen und fallen mit der Handelspolitik

Damit die internationale Lieferkette floriert, muss mehr sichergestellt sein als nur ihre logistische Funktionsfähigkeit. Zunehmender Protektionismus und abnehmende Freihandelsorientierung wirken inzwischen wie Sand im Getriebe der Globalisierung. Solche Stoppsignale von oben, die längst mehr sind als Nadelstiche, werden immer häufiger gesetzt. „Aufgrund des zunehmenden wirtschaftlichen Nationalismus wurden 2020 mehr als 2.400 Handelsbeschränkungen eingeführt“, zählte Pamela Coke-Hamilton auf. Das setzt Unternehmen unter Druck, ihre heimische Produktion zu steigern, also die Lieferkette zu verkürzen. Diese schleichende Abkehr von offenen Grenzen und freiem Marktzugang offenbart die Schwächen der Weltmarktordnung. „Die Hüterin des regelbasierten globalen Handelssystems, die WTO, schwächelt seit Jahren“, sagte John Denton, Generalsekretär der ICC. Institutionell entspricht sie nicht dem Zustand der Weltwirtschaft heute, wo China und digitale Märkte – anders als im Jahr der Gründung der WTO 1995 – eine maßgebliche Rolle spielen. Es sei nicht gelungen, das Regelwerk so zu aktualisieren, dass es die heutige Wirtschaft widerspiegelt.

Immerhin: Personell hat sich etwas getan. „Wenn man diese Organisation tatsächlich reformieren will, braucht man eine Führungspersönlichkeit mit kühnen Ambitionen, aber auch mit Sachverstand“, sagte Denton. Er ist zuversichtlich, dass diese Leitfigur mit der neuen Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala gefunden ist. „Sie ist bereit, der Organisation Leben einzuhauchen.“ Dass sie sogar bereit ist, dicke Bretter zu bohren, belege die Wahl ihres ersten Großprojekts: Das Fischereisubventionsabkommen wird seit 20 Jahren diskutiert und steht kurz vor dem Aus.

So hoffnungsvoll sich die Blicke wieder auf die WTO richten, so illusionslos blickten die Teilnehmer auf das schwächste Glied der Lieferkette: die Politik. „Die Aussichten für die nächsten zehn Jahre sind nicht gerade rosig, was die globale Zusammenarbeit der Regierungen angeht“, sagte John Denton. Dass sich die Supermächte und Wirtschaftsblöcke auseinander statt aufeinander zu bewegen, beunruhigt auch Frank Appel. Die Unvereinbarkeit von Vorschriften zwischen den USA, Europa und China nehme zu. „Wenn wir überall auf der Welt gegensätzliche Gesetze haben, wird das am Ende die Lieferketten zerstören“, sagte der Deutsche-Post-Vorstand. Sein Appell: „Wir müssen Wege finden, wie wir auf globaler Ebene zusammenarbeiten können, obwohl wir unterschiedliche Systeme und Länder haben.“

Als einen der Träger dieser Kooperation in Zeiten der Unsicherheit beschrieb Generalsekretär John Denton zum Abschluss seine Organisation, die ICC: „Bei uns arbeitet die Internationale Handelskammer Chinas im selben Raum wie die Taiwans, die der USA im selben Raum wie die Irans und die Israels wie die Syriens“, so Denton. „Wir haben einen eigenen Schiedsgerichtshof, wir können Standards schaffen, wo Regierungen das nicht können. Wir haben tatsächlich institutionellen Einfluss entlang der Lieferkette.“

Fazit

Der Zustand der globalen Lieferkette ist kritisch, aber besser als verlautet. Sollte es gelingen, den internationalen Handel digitaler, nachhaltiger und wieder offener zu gestalten als bisher, bieten sich große Chancen auf eine zukunftstaugliche Entwicklung. Die Schwierigkeit wird sein, multilaterale wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgerechnet in Zeiten abnehmender politischer Kooperationsbereitschaft über alle Grenzen hinweg zu organisieren.

Bildnachweis: iStock

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