Ende Mai 2021 verurteilte das Bezirksgericht Den Haag auf der Grundlage eines zivilrechtlichen Unterlassungsanspruchs die Royal Dutch Shell plc („Shell“) als Konzernmuttergesellschaft dazu, CO2-Emissionen aufgrund ihrer Geschäftstätigkeit oder von ihr verkaufter Produkte bis Ende 2030 um 45 % (im Vergleich zum Wert des Jahres 2019) zu reduzieren. Nach niederländischem Deliktsrecht bestehe eine ungeschriebene Sorgfaltspflicht, die Shell zur Reduzierung von klimaschädlichen CO2-Emissionen verpflichte. Ausgefüllt werde diese Sorgfaltspflicht durch das Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 2 und 8 Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie Art. 6 und 17 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie die UN Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGP). Damit wurde erstmals ein Unternehmen auf Basis von Menschenrechten und umweltvölkerrechtlichen Maßgaben zur Erreichung von konkreten Reduktionszielen verurteilt. Zudem wurde Shell als Konzernmuttergesellschaft rechtsträgerübergreifend verurteilt und hierdurch Verkehrspflichten im gesamten Konzern begründet. Geklagt hatten u.a. mehrere niederländische NGOs, darunter Milieudefensie und Greenpeace Nederland.
Shell hat angekündigt, gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung einzulegen. Die dem Urteil zuteilwerdende öffentliche Aufmerksamkeit ist gleichwohl angemessen, denn es vollzieht sich eine dynamische Weiterentwicklung im Bereich der Klimaklagen (climate change litigation).
Klimaklagen – Klimaschutzurteile gegenüber Staaten
Bereits 2015 verurteilte das Bezirksgericht in Den Haag (Rechtbank Den Haag) auf die zivilrechtliche Klage der niederländischen Urgenda Foundation den niederländischen Staat zur Reduktion seiner Treibhausgasemissionen um 25% bis 2020 (im Vergleich zu 1990). Das zunächst umstrittene Urteil wurde im Dezember 2019 vom niederländischen Obersten Gerichtshof (den Hooge Raad) bestätigt. Der Hooge Raad stützte sich hierbei schon auf die in der EMRK verankerten Rechte auf Leben und die Achtung von Privat- und Familienleben. Obschon sich die Risiken erst langfristig verwirklichten, sei der Staat aufgrund der Erheblichkeit der Gefahren des Klimawandels zum Handeln verpflichtet.
In dieselbe Richtung weist ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. März 2021, welches einzelne Regelungen des deutschen Klimaschutzgesetzes (KSG) für unzureichend und verfassungswidrig erklärte. Die gesetzlichen Maßgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfades nach 2030 seien verfassungsrechtlich unzureichend, da der Gesetzgeber keine hinreichend konkreten Vorgaben für die Jahresemissionsmengen ab 2030 bis zu der von Art. 20a GG geforderten Klimaneutralität gemacht habe. Diese könnten nicht auf den Verordnungsgeber verlagert werden. Darüber hinaus leitete das BVerfG konkrete Schutzpflichten des Staates zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit vor Schädigungen durch den Klimawandel her, die jedoch gegenwärtig durch das KSG nicht verletzt würden.
Das BVerfG nimmt in den Gründen Bezug auf eine Entscheidung des Supreme Court of Ireland vom 31. Juli 2020 (205/2019 „Friends of the Earth vs. Ireland“), in der die fehlende Spezifizität der irischen Klimaschutzmaßnahmen bis 2050 beanstandet wurde.
Mit wohl ähnlichem Argumentationsmuster sind jüngst drei Klimaklagen gegen die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern und Brandenburg beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden.
Zivilrechtliche Klimaklagen auch in Deutschland
Mit dem Shell-Urteil richtet sich die Rechtsprechung nun erstmals gegen ein emissionsintensives Unternehmen. Interessant ist, dass das niederländische Gericht die Sorgfaltspflicht bzw. Pflicht zur Unterlassung künftiger Emissionen aus einer Schwesternorm zu § 823 BGB des deutschen Deliktsrechts herleitet. Vergleichbare Unterlassungsklagen sind in Deutschland bisher nicht bekannt. Angesichts der Rezeption des Shell-Urteils verwundert es nicht, dass die Umweltorganisationen Greenpeace und Deutsche Umwelthilfe (DUH) im September 2021 vor Beginn der Internationalen Automobilausstellung (IAA) angekündigt haben, Klimaklagen u.a. gegen deutsche Automobilkonzern einzureichen. Konkret soll es dabei um einen „Klimaschützenden Unterlassungsanspruch“ gehen.
Auch wenn dem Shell-Urteil niederländisches Recht zugrunde liegt, können die dortigen Argumentationsmuster auch auf das deutsche Recht übertragen werden, ggf. über das Einfallstor des allgemeinen Unterlassungsanspruchs analog § 1004 BGB oder spezieller Haftungsnormen wie der im Umwelthaftungsgesetz (UmweltHG).
Es ist nicht auszuschließen, dass aus den internationalen Vereinbarungen auch nach deutschem Recht künftig Verpflichtungen hergeleitet werden, deren Verletzung als rechtswidrige Handlung eingestuft wird. Zudem könnten völkerrechtliche Standards zur Konkretisierung von Fahrlässigkeitsvorwürfen herangezogen werden. Denn auch in anderen Bereichen wird sog. soft law bereits zur Auslegung gesetzlicher Tatbestände bemüht. Zudem ist die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten anerkannt. Danach sind auch Zivilrichter wegen ihrer Grundrechtsbindung verpflichtet, im Rahmen seiner Kompetenzen durch eine grundrechtskonforme Auslegung und ggf. Fortbildung des einfachen Rechts Schutz zu gewähren. Auch die Compliance-Pflicht der Konzernobergesellschaft sowie die Verpflichtung zur Berücksichtigung von Umwelt- und Sozialfaktoren im Rahmen der Corporate Governance (Environmental, Social, Governance, „ESG“) für bestimmte kapitalmarktorientierte Gesellschaften lassen sich bei der Ausfüllung des Haftungsmaßstabs heranziehen und begrenzen das Ermessen der Geschäftsleiter. Die Tendenz, ein private enforcement zur Verwirklichung öffentlicher Normen zu ermöglichen, liegt auch anderen Rechtsmaterien wie der des Kartellrechts zugrunde.
Ob auch über das neue Lieferkettengesetz eine zivilrechtliche Haftung herbeigeführt werden kann bleibt abzuwarten. Die Bundesregierung sieht infolge der hohen internationalen Verflechtung der deutschen Volkswirtschaft eine „besondere Verantwortung für einen nachhaltigen und fairen Welthandel“ und verfolgt das Ziel, mittels einer gesetzlichen Regelung die Achtung international anerkannter Menschenrechte durchzusetzen. Das Lieferkettengesetz selbst enthält indes keine zivilrechtliche Haftungsnorm. Allerdings ist es auch insoweit denkbar, dass Gericht die dortigen Sorgfaltspflichten als Schutzgesetz oder Verkehrs- und Organisationspflichten anerkennen und so eine Haftung begründen. Allerdings ist der Anwendungsbereich des Lieferkettengesetzes begrenzt, da es nur Tätigkeiten zur Herstellung der Produkte / Dienstleistungen erfasst und somit gerade nicht sämtliche Geschäftstätigkeiten.
Kritik am Private Enforcement
Kritisiert wird allgemein, dass der auf bilaterale Konflikte zwischen zwei Personen angelegte Zivilprozess nicht das geeignete Forum dafür sei, der internationalen Dimension sowie der Vielzahl der zu berücksichtigenden Interessen im Hinblick auf die Einhaltung von Klimaschutzvorgaben gerecht zu werden. Ferner seien Unternehmen keine Adressaten völkerrechtlicher Vereinbarungen und Grundsätze. Es fehle außerdem am Nachweis der Kausalität. Denn das Ausscheiden von Emissionen lasse sich nicht eindeutig einem konkreten Schadensereignis zuordnen. Für sog. summierte Immissionen hatte der Bundesgerichtshof im Jahr 1987 eine Haftung der öffentlichen Hand für „emittentenferne“ Waldschäden abgelehnt. Ohne Mindestschwellen für die Annahme eines Verursachungszusammenhangs wäre theoretisch jeder Mensch als CO2-Emittent haftbar. Zudem seien Wettbewerbsverzerrungen zu befürchten, wenn einzelne Unternehmen zum Ausgleich der Kosten des Klimawandels herangezogen würden. Auch helfe die Verpflichtung einzelner Unternehmen zur Reduktion von Emissionen dem Klima nicht, wenn der noch bestehende Bedarf schlicht von Mitbewerbern bedient werde. Schlussendlich stellt sich auch die Frage der Gewaltenteilung, denn das Pariser Abkommen stellt es ins Ermessen der Staaten – mithin der Legislativen und Exekutiven –, das Erreichen der Klimaschutzziele sicherzustellen.
Erste Schadensersatzklage in Deutschland
Eine erste klimaschutzmotivierte Schadensersatzklage befindet sich derzeit in der Berufungsinstanz beim OLG Hamm. Es klagt ein peruanischer Bauer auf Ersatz der klimawandelbedingten Anpassungskosten zur Sicherung seines Hauses in den Anden gegen Überflutung durch Gletscherschmelze. Das beklagte Energieunternehmen soll hierbei für seinen Verursachungsanteil am Klimawandel aufkommen. Das Landgericht Essen wies die Klage erstinstanzlich mangels (adäquater) Kausalität der Emissionen mit einer klassischen juristischen Begründung, u.a. gestützt auf das Waldschadensurteil des Bundesgerichtshofs, ab.
Das OLG Hamm hält eine solchen Anspruch für jedenfalls schlüssig und ist in die Beweisaufnahme eingetreten. Ein Verursachungsbeitrag der Emissionen für die Präventionsmaßnahmen und eine quotale Haftung sei nicht von vornherein ausgeschlossen. Das Gericht wird nun einen Ortstermin in Peru im September 2021 durchführen.
Klagen gegen deutsche Unternehmen nach ausländischem Recht?
Unabhängig von der Entwicklung der deutschen Rechtslage könnten deutsche Unternehmen auch unter Anwendung ausländischen Rechts verklagt werden. Die maßgebliche EU-Verordnung zur Bestimmung des anwendbaren Rechts (Rom II-VO) begründet in Bezug auf Umweltschäden für den Geschädigten ein Wahlrecht, ob das Recht des Ortes des Schadenseintritts (global denkbar) oder dem Ort des schadensbegründenden Verhaltens (regelmäßig der Unternehmenssitz) Anwendung finden soll (Art. 4 und 7 Rom II-VO). Das ermöglicht eine Klage vor einem deutschen Gericht unter Anwendung ausländischen Rechts. Beispielsweise sind in England Verfahren nach dem Recht ausländischer Staaten (Sambia, Nigeria und Bangladesch) geführt worden, wo es jeweils um eine Haftung der Konzernobergesellschaft wegen Schutzpflichtverletzungen, u.a. wegen Umweltverschmutzungen, ging (Okpabi-, Hamida Begum- und Vedanta-Fall). Nach Art 17 Rom II-VO sind ergänzend die Sicherheits- und Verhaltensregeln zu berücksichtigen, die zur Zeit des haftungsbegründenden Ereignisses in Kraft waren.
Fazit Klimaklagen
Private Rechtsdurchsetzungsversuche werden international und national auch im Hinblick auf die Klimaverantwortung zunehmen. Ob die deutsche Rechtsprechung wie im Shell-Urteil eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit ganzer Konzerne aus völkerrechtlichen Abkommen oder anderen Rechtsquellen herleitet, ist derzeit offen. Ebenso offen ist die Frage, wie streng der notwendige Verursachungsbeitrag beurteilt werden wird, wobei das OLG Hamm hier bereits eine erhebliche Flexibilität hat erkennen lassen. Angesichts des allgemeinen gesellschaftlichen Umdenkens in Bezug auf den Klimawandel ist jedoch zu erwarten, dass die Rechtsprechung in diesem Themenkomplex nicht vorschnell oder formalistisch eine Haftung ausschließen wird. Unabhängig vom zivilrechtlichen Ausgang dürften solche Verfahren gerade am Anfang zu einer erheblichen medialen Wirkung führen.
Am 3. Dezember 2021 veranstaltet ICC Germany einen Lunch Break zum Thema. Mehr erfahren >>