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ICC-Germany: Können Sie einen Schwerpunkt für Ihre Präsidentschaft benennen?

Claudia Salomon: Einer meiner Schwerpunkte ist es, die Bedürfnisse der Nutzer und Nutzerinnen der Schiedsgerichtsbarkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Kundenorientierung ist mehr als ein Schlagwort. Kanzleien haben in den letzten 25 Jahren in diesem Bereich für ihre Mandantinnen und Mandaten Großartiges geleistet. Als ich vor vielen Jahren in einer Kanzlei begann, wurde damals festgelegt, dass wir innerhalb von zwei Stunden auf Anrufe oder E-Mails von Mandanten reagieren mussten. Wenn wir nicht in der Lage waren, innerhalb dieser Zeit eine substanzielle Antwort zu geben, mussten wir den Mandanten wissen lassen, dass wir seinen Anruf oder seine E-Mail erhalten haben, und eine Zeit angeben, innerhalb derer wir antworten würden. Aus heutiger Sicht erscheint das kurios, aber wir hatten diese Regel, um eine Kultur der Reaktionsfähigkeit aufzubauen, die damals einfach nicht gegeben war.

Ich habe dies sehr ernst genommen und tue es immer noch, Und ich weiß, dass ich mehr als einmal einen Auftrag bekommen habe, weil ich diejenige war, die den Kunden zurückgerufen bzw. sich schnell gemeldet hat. Diesen Wandel möchte ich auch innerhalb der ICC-Organisation weiter vorantreiben. Das ist unabdingbar, wenn die internationale Schiedsgerichtsbarkeit ihren Status bei der Beilegung grenzüberschreitender Streitigkeiten behalten will.

ICC-Germany: Worum geht es beim Thema Kundenorientierung?

Claudia Salomon: Neben mehr Schnelligkeit und Effizienz geht es auch darum, unsere Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie über das bloße Angebot an Instrumenten hinausgehen. Wir müssen wieder stärker in den Blick nehmen, was die Parteien eigentlich wollen. Richard Susskind, Autor und Mitglied im Vorstand der ICC Dispute Resolution Services, hat einmal gesagt, dass Menschen, die einen Neurochirurgen aufsuchen, nicht etwa lediglich eine Operation wünschten. Sie wollten vielmehr wieder gesund werden. Genauso wenig beauftragen Menschen eine Kanzlei, weil sie ein ein schnelles und effizientes Schiedsverfahren wünschen. Sie haben einen Streit und wollen eine Lösung.

Für mich ist dafür der Austausch mit denjenigen, die unsere Dienstleistungen nutzen, ganz zentral. Mein Ziel ist es, die Einbindung der im Unternehmen Verantwortlichen in das Schiedsverfahren zu erhöhen. Denn nur so werden wir der Rolle gerecht, die Unternehmensjuristen  und -juristinnen für ihre Unternehmen im Bereich Risikomangement mittlerweile einnehmen. Dazu werde ich viele Gespräche führen und es freut mich, dass wir diesen Dialog auf Initiative und mit Unterstützung von ICC Germany auch in Deutschland intensivieren werden.

ICC-Germany: Sind Unternehmen nicht ganz zufrieden damit, die Verfahrensführung abzugeben?

Claudia Salomon: Mangelnde Transparenz und Vorhersehbarkeit wird von den Unternehmen immer wieder kritisiert und darauf müssen wir reagieren.  Eine stärkere Einbindung der Parteien kann dazu beitragen, ihre Erwartungen vorab abzufragen. Damit können auch der Zeit- und Kostenaufwand bei Schiedsverfahren deutlich reduziert werden. Alle Schiedsgerichtsinstitutionen und Schiedsrichter können die Art und Weise, wie wir über die verschiedenen Akteure in einem Schiedsverfahren denken, neu gestalten. Gleichzeitig können sie gewährleisten, dass die Parteien – unsere Kunden – diejenigen sind, die die Dienstleistungsanforderungen bestimmen. Das Fallmanagement und der Service der ICC sind unübertroffen. Gleichzeitig möchte ich als Präsidentin des ICC-Gerichtshofs sicherstellen, dass jeder Aspekt eines internationalen Schiedsverfahrens kundenorientiert ist.

ICC-Germany: Wie könnte das in der Praxis aussehen?

Claudia Salomon: Wir können dafür sorgen, dass die Rechtsabteilungen der Unternehmen oder die Geschäftsleitung noch stärker als bisher die Möglichkeit haben, sich unmittelbar in Schiedsverfahren einzubringen, damit ihre Ziele besser verstanden und priorisiert werden können. Jede Partei kennt ihre eigenen internen Abläufe, den Wert des zugrunde liegenden Geschäfts und das, was letztlich auf dem Spiel steht, am besten. Es geht um einen Streitfall der Partei, das Risiko der Partei und das Geld der Partei, sodass die Partei selbst am besten entscheiden kann, welches Risiko sie eingehen und welche strategischen Entscheidungen sie treffen will. In der Praxis können ICC-Schiedsgerichte einfache, aber effiziente Maßnahmen ergreifen. Dazu zählt beispielsweise die Möglichkeit für Parteivertreter und -vertreterinnen bzw. Unternehmensjuristen – und juristinnen, auf Wunsch alle Mitteilungen des Schiedsgerichts zu erhalten und bereits zu einem  frühen Zeitpunkt an Verfahrenskonferenzen teilzunehmen, bei denen die Möglichkeit besteht, die Form und den Zeitplan des Schiedsverfahrens zu beeinflussen.

ICC-Germany: Sind Schiedsverfahren auch für den Mittelstand attraktiv?

Claudia Salomon: Ja, der Mittelstand hat für mich eine herausragende Bedeutung für die ICC und wir möchten, dass auch mittelständischen Unternehmen die ICC als erste Wahl sehen. Dafür wollen wir ganz deutlich herausarbeiten, wie die ICC bei der Beilegung von Streitigkeiten mit geringen bis mittleren Streitwerten helfen kann. Dazu zählt erstens die zunehmende Bedeutung, die alternative Formen der Streitbeilegung (ICC ADR-Verfahren) bei der gütlichen Belegung von Konflikten einnehmen können, bevor es zu einem offiziellen Schiedsverfahren kommt. Zweitens die beschleunigten Regeln für ICC-Schiedsverfahren mit geringen Streitwerten, die sich als durchschlagender Erfolg erwiesen haben. Und drittens die Anpassungsfähigkeit des ICC-Schiedsverfahrens für alle Arten von Streitigkeiten, und nicht nur für die Beilegung von z. B. komplexen Baustreitigkeiten, für die die ICC bekannt ist. Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung gewinnen beispielsweise die Bereiche Informations- und Kommunikationstechnik und der Schutz geistigen Eigentums auch in internationalen Schiedsverfahren zunehmend an Bedeutung.

ICC-Germany: Stichwort Digitalisierung – welche Erfahrungen konnte der Court während der Pandemie sammeln, werden Schiedsverfahren künftig digital ablaufen?

Wir alle haben während der Pandemie aus dem Stand heraus erlebt, was Technologie möglich machen kann, Stichwort digitale hearings. Zukünftig gehe ich davon aus, dass die vor der Pandemie vorherrschende Aufteilung von persönlichen und digitalen Anhörungen nach dem Abflauen der Pandemie umgedreht wird. Uns allen ist klar geworden, dass beispielsweise verfahrensrechtliche Anhörungen sehr gut aus der Ferne abgewickelt werden können. Für Beweisanhörungen ist hingegen normalerweise eine persönliche Anwesenheit erforderlich. Hinzu kommt: Technologie wird auch im Verfahrens-Management noch viel wichtiger. Auch künstliche Intelligenz wird sich auf die schiedsrichterliche Praxis auswirken – z. B. im Hinblick auf die immer ausgefeiltere Überprüfung von Dokumenten. Es ist klar, dass sich die ICC beim Technologieeinsatz kontinuierlich fortentwickeln muss, wie die jüngste Umfrage der ICC-Kommission für Schiedsgerichtsbarkeit und alternative Streitbeilegung zu diesem Thema zeigt. Der „ICC-Bericht zum Thema Informationstechnologie in der internationale Schiedsgerichtsbarkeit“ soll überarbeitet werden.

ICC-Germany: Wie sehen Sie das Thema Transparenz?

Claudia Salomon: Transparenz und Berechenbarkeit sind grundlegende Voraussetzungen für die Akzeptanz der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Hier hat Alexis Mourre enorm viel getan, beispielsweise durch die Veröffentlichung von Schiedsrichterbenennungen und Schiedssprüchen. Die Gründe für bestimmte Entscheidungen, wie z. B. Entscheidungen über die Ablehnung von Schiedsrichtern, werden bislang nur auf Antrag einer Partei mitgeteilt. Hier werden wir in naher Zukunft ein Kompendium anonymisierter Entscheidungen veröffentlichen. Dieses soll den Parteien helfen, die Vorgehensweise der ICC besser zu verstehen. Ich gehe davon aus, dass es weniger Anfechtungen geben wird, da die Parteien ihre Auswahl an Schiedsrichtern entsprechend anpassen werden.

ICC-Germany: Eine der ersten Amtshandlungen war die Gründung einer neuen Task Force für die Integration von Menschen mit Behinderungen. Warum?

Claudia Salomon: Mir war es wichtig, eine starke Botschaft zum Thema Vielfalt und Inklusion auszusenden, denn ich betrachte diese als zentral und ganz wesentlich für die Arbeit des ICC-Schiedsgerichtshofs. Vielfalt ist auch Teil der Aufrechterhaltung der Legitimität der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Die Task Force zum Thema Inklusion soll möglicherweise erforderliche Anpassungen erarbeiten. Schon die einfache Frage während einer Fallbesprechung, ob es Fragen zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen gibt, die wir berücksichtigen müssen, kann eine große Wirkung haben. Menschen erwerben Beeinträchtigungen häufig erst im Laufe ihres Lebens. Daher ist es für jeden Schiedsrichter und jede Schiedsrichterin sicher beruhigend zu wissen, dass er oder sie seine Berufstätigkeit beispielsweise nach einem Unfall oder einer Krankheit weiter fortführen kann.

ICC-Germany: Warum ist Vielfalt wichtig – in einem Bereich, in dem es um juristische Expertise und Verhandlungsführung geht?

Claudia Salomon: Lassen Sie mich zwei Dinge zum Thema Inklusion sagen: Zum einen erwerben die meisten Menschen Beeinträchtigungen erst im Laufe ihres Lebens. Daher ist es für jeden Schiedsrichter und jede Schiedsrichterin sicher beruhigend zu wissen, dass er oder sie seine Berufstätigkeit beispielsweise nach einem Unfall oder einer Krankheit weiter fortführen kann. Zum anderen haben wir die Devise, dass wir die Besten wollen und dass bestimmte Merkmale uns nicht von den wirklichen wichtigen Aspekten wie Exzellenz ablenken.

Beim Thema Schiedsrichterinnen gab es möglicherweise auch bei dem ein oder anderen Vorbehalte. Wir hatten in der Vergangenheit deutlich mehr Männer und Alexis Mourre hat kontinuierlich darauf gesetzt, Frauen in die Führungsriege des Courts zu berufen. Ein großer Teil der Ernennung der Schiedspersonen erfolgt durch die Parteien. Und laut dem ICC-Bericht über die Fallzahlen für 2020 wurden erstmals mehr Frauen von den Parteien vorgeschlagen, als vom ICC-Gerichtshof ernannt. Das heißt also, unsere Bemühungen werden vom Markt angenommen. Ich bin begeistert, dass ich mich all diesen Herausforderungen stellen kann und freue mich auf die nächsten Jahre, die spannend zu werden versprechen.

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